Operation Romanow
Grünblau und orthodoxe Kirchen mit vergoldeten Zwiebeltürmen stellten eben jenes märchenhafte Russland dar, dessen sein Vater voller Nostalgie gedachte, wenn er zu viel Wodka trank. Und das trotz der Tatsache, dass Sorgs Mutter nur zu glücklich gewesen war, Russland zu verlassen, als aufgrund der brutalen Pogrome massenweise Juden umgebracht und Millionen von ihnen zu heimatlosen Flüchtlingen gemacht wurden.
Am Ende einer breiten Prachtstraße entdeckte Sorg die Krönung zaristischer Bauwerke – den großen Alexanderpalast mit den beeindruckenden korinthischen Säulen, die Sommerresidenz des Zaren, die fünfundzwanzig Kilometer von Sankt Petersburg entfernt lag.
So nahe, zum Greifen nahe.
Er umklammerte seine abgegriffene Gladstone-Ledertasche, stieg von der Droschke herunter und reichte dem Kutscher eine Silbermünze. »Danke, Genosse.«
Der Kutscher nahm die Silbermünze entgegen, küsste sie und steckte sie grinsend in die Tasche. »Ich danke Ihnen, und einen schönen Tag, Herr.« Mit diesen Worten ergriff er die Zügel und wendete die Droschke. Das Getrappel der Pferde im matschigen Schnee verhallte in der Ferne.
Sorg begann zu schwitzen, als das Adrenalin durch seine Adern strömte.
Er war ein schlanker, mittelgroßer Mann mit aufmerksamen braunen Augen und einem sorgfältig gestutzten Bart. Seine gefällige Erscheinung wies nur einen Makel auf, und das war sein linkes Bein. Es war zwei Zentimeter kürzer als das rechte. Sorg hatte in seiner Kindheit unter den üblichen grausamen Spötteleien leiden müssen: Häschen, Hinkebein, Klumpfuß.
Er erinnerte sich genau an den Tag, als er vier Jahre alt gewesen war und sein Vater – ein Musiker, der in Varietétheatern auftrat und ein praktisch veranlagter Mann war – Abhilfe schuf. Sein Dada saß mit einem scharfen Messer und einem großen, zwei Zentimeter dicken Stück Leder am Küchentisch. Aus diesem Stück schnitt er eine Sohle heraus und nagelte sie unter den linken Schuh seines Sohnes. Jetzt hinkte der Junge zwar kaum noch, da aber die Hüfte ihre Lage verändert hatte, um das Hinken auszugleichen, äußerte sich der körperliche Makel nun durch einen auffallend stolzen Gang. Doch das nahm Sorg dankbar in Kauf.
»Was ist das für ein Gefühl, Philip?«
»Viel besser, Dada. Jetzt fühle ich mich wie ein richtiger Junge.«
Noch Jahre später glaubte Sorg, sich an die feuchten Augen seines Vaters an jenem Tag zu erinnern. Aus ihnen sprachen Liebe und Stolz, aber auch Mitleid, denn er konnte nicht mehr tun, als eine zwei Zentimeter dicke Sohle unter den Schuh seines Sohnes zu nageln, um dessen Gebrechen zu lindern.
Sorg betete seinen Vater an.
Und es gab noch eine andere Erinnerung an seine Kindheit, die Sorg niemals vergessen würde.
Er war zehn Jahre alt, als eines Abends im Winter eine Gruppe von Männern in dunklen Uniformen die Tür der Einzimmerwohnung seiner Eltern eintraten. Angeführt wurden sie von einem Schläger mit finsterer Miene, glänzender Glatze und aschfahler Haut. Sein linkes Auge war milchig-trüb. Er trug einen langen schwarzen Mantel, und es schien ihm Freude zu bereiten, Menschen zusammenzuschlagen. Seine rechte Hand steckte in einem Furcht einflößenden Schlagring aus Messing.
Bis zum heutigen Tag erinnerte sich Sorg an den höhnischen Blick des Mannes, nachdem er die Tür zertrümmert und seinen Ausweis gezeigt hatte. »Kasan – Geheimpolizei, Ochrana. Hände hoch, du sozialistisches jüdisches Dreckschwein. Wir werden dich lehren, Unruhe zu stiften!«
Seit diesem Tag verfolgte Kasans boshaftes Grinsen Sorg in seinen Albträumen.
Blanker Hass war dem Mann im Gesicht gestanden, als er Sorgs Vater mit dem Schlagring brutal zusammenschlug und ihn dann trotz des verzweifelten Flehens seiner Mutter aus dem Zimmer zerrte. Sorgs Mutter verprügelte er ebenfalls. Er trat ihr in den schwangeren Bauch und traktierte ihren ganzen Körper mit Schlägen.
Sorg sah seinen Vater nie wieder.
Vor ihm lag nun eine breite von schmiedeeisernen Gaslaternen flankierte Prachtstraße, die zum Alexanderpalast führte. Zu Fuß waren es etwa zehn Minuten bis dorthin, wenn man zügig ging. Bis zu seinem Wohnhaus brauchte er nicht einmal so lange. Sorg nahm die Tasche in die Hand und lief los.
Es war kaum zu glauben, dass die Romanows – der Zar, seine Frau, der Sohn und die vier Zarentöchter einschließlich der Großfürstin Anastasia – hier gefangen gehalten wurden. Das wollte Sorg ändern, und die Ironie entging ihm dabei nicht. Er
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