Operation Romanow
Strohkörbe, das Kinderbett und das Bettzeug auf den Boden. Seinen Hut legte er auf den klapprigen Tisch und trat ans Bett, in dem Ljudmila Jakowa mit ihrem Baby lag. Er betrachtete ihre schlafenden Gesichter und legte eine Hand auf die Stirn der Mutter. »Sie hat kein Fieber mehr. Mit Gottes Gnade wird deine Mutter wieder gesund.«
»Und mein Bruder?«
Dr. Andrew lächelte müde. »Er ist einen Monat zu früh zur Welt gekommen, aber ich glaube, er wird es schaffen. Das Kinderbett hat früher Juri gehört. Ich dachte, deine Mutter kann es bestimmt gut gebrauchen. Ich brauche es nicht mehr, Leonid.«
»Danke, Herr.«
»Du hast Juri kennengelernt. Er ist ein guter Junge. Ebenso liebenswert und aufrichtig, genau, wie seine Mutter gewesen ist. Ich hoffe, du magst ihn?«
Der Atem des Arztes roch nach Pflaumenschnaps. Leonid kannte diesen Geruch von seinem Vater. Der Arzt war nicht betrunken, aber nüchtern war er auch nicht mehr. Leonid nickte. »Ihre Kinder scheinen nicht so verwöhnt zu sein wie andere reiche Kinder«, erwiderte er frei heraus.
»Wir sind nicht reich, Leonid. Ich verstehe, dass für dich dieser Eindruck entstehen kann. Ich bin nur ein viel beschäftigter Arzt mit viel zu vielen Patienten und zu wenig Zeit. Wenn ich weniger trinken und öfter darauf bestehen würde, dass meine Patienten ihre Rechnungen bezahlen, hätte ich wahrscheinlich mehr Geld zur Verfügung. Aber im Leben zählt nicht nur Geld.«
»Was meinen Sie damit, Herr?«
Der Doktor lächelte verhalten. »Ach, nichts. Du hast recht, Juri ist kein verwöhnter Junge, und dafür bin ich seiner Mutter dankbar. Sie stammte aus einer Militärfamilie und bestand darauf, ein bescheidenes, ehrbares Leben zu führen.« Der Arzt rieb sich die müden Augen. »Und Nina ist nicht meine Tochter. Ihre Eltern sind gute Freunde von mir und haben mich gebeten, ihre Tochter vom Musikunterricht abzuholen.« Der Arzt setzte sich auf einen der beiden Stühle, die in dem spärlich eingerichteten Zimmer standen. »Setz dich, Leonid«, forderte er den Jungen auf.
Der Junge nahm auf einem der Stühle Platz.
Der Arzt nahm eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche. »Verzeih mir, aber ich hatte eine anstrengende Nacht. Nachdem ich Juri nach Hause und Nina zu ihren Eltern gebracht habe, musste ich noch mal ins Krankenhaus, um einen Patienten zu operieren. Dann bin ich wieder nach Hause gefahren, habe mir einen Pflaumenschnaps eingegossen und ein paar Dinge eingepackt, bevor ich hierhergekommen bin. Nun, den Rest kennst du ja.« Der Doktor zündete sich eine Zigarette an und betrachtete Ljudmila Jakowa und ihr Kind eine ganze Weile mit besorgter Miene.
Schließlich wanderte sein Blick durch den kahlen Raum. Er kniff die Lippen zusammen, als verärgerte oder berührte ihn die Ärmlichkeit um ihn herum. Leonid Jakow wusste nicht, welches Gefühl überwog.
»Woher kennt meine Mutter Sie, Herr?«
»Ich bin der Arzt, der dich auf die Welt gebracht hat, Leonid«, sagte er schmunzelnd. »Wenn ich mich richtig erinnere, warst du schon damals ein ausgesprochen lebendiger Junge, der es kaum erwarten konnte, die Welt mit lauter, erboster Stimme zu begrüßen.«
»Meine Mutter hat es mir nie erzählt, Herr.«
»Nachdem dein Vater euch verlassen hat, habe ich ihr Arbeit in unserem Ärzteklub beschafft. Hat sie es dir erzählt?«
Leonid schüttelte den Kopf.
Der Blick des Arztes glitt zu den abgegriffenen Büchern neben dem Bett. »Deine Mutter ist eine liebenswerte, rechtschaffene Frau, Leonid. Eine liebevolle Mutter. In einer gerechteren Welt und mit einer besseren Ausbildung hätte sie gut für sich und euch sorgen können. Aber diese Welt, in der wir beide leben, ist nicht gerecht. Das weißt du sicher.«
»Ja, Herr. Warum helfen Sie uns, Herr?«
»Wer sind wir denn, wenn wir nicht anderen helfen können? Wir sind niemand.« Dr. Andrew zögerte. »Hast du schon über einen Namen für deinen Bruder nachgedacht?«
Leonid sah zum Bett hinüber. Das friedliche Bild einer schlafenden Mutter mit ihrem Kind würde fortan immer die zärtlichsten Gefühle in ihm wecken. »Meine Mutter hat gesagt, dass wir ihn nach Ihnen nennen wollen, weil Sie das Leben des Babys gerettet haben. Wie heißen Sie mit Vornamen, Doktor?«
»Stanislaw.«
»So werden wir meinen Bruder nennen. Stanislaw.«
Der Arzt sah gerührt und fast ein wenig verlegen aus. »Das … das ist nett von euch beiden. Sehr nett. Hilf deiner Mutter, Leonid. Sie hatte eine schwere Geburt und wäre fast gestorben.
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