Operation Romanow
sein Herz schneller schlug. Sie hatte lange Wimpern und die zarteste Haut, die er jemals gesehen hatte. Auch aus dem heruntergekommenen Arbeitermilieu entwuchs gelegentlich eine Rose, aber keine war so schön wie dieses Mädchen.
Der Junge mit den dunklen Augen war ordentlich gekleidet und sauber. Er sah nicht so hochnäsig aus wie manch andere reiche Jungen, doch Jakow hegte einen Groll gegen ihn. Er hegte gegen alle Reichen und ihre Kinder einen Groll. »Wie heißt du?«, fragte Jakow misstrauisch.
»Juri. Und das ist Nina«, erwiderte der Junge höflich.
»Ich bin Leonid Jakow.« Er starrte mit grimmiger Miene zu dem Fenster hoch, hinter dem im Licht einer flackernden Petroleumlampe Schatten tanzten. »Ich hoffe, dein Vater ist ein guter Arzt, Juri Andrew.«
»Warum?«
»Weil ich ihn umbringe, wenn meine Mama stirbt!«
Der Junge ging nicht auf die Drohung ein. »Mein Vater gehört zu den besten Ärzten in Sankt Petersburg. Manchmal ist er schlecht gelaunt, aber nur, weil er wütend auf die Welt ist und meint, dass alles furchtbar ungerecht ist.« Juri betrachtete die von Gaslaternen erhellte Straße. Obwohl er noch ein Kind war, wirkte er sehr erwachsen. »Wie ist es, hier zu wohnen?«
»Was meinst du wohl?« Jakow, der von Missmut und Angst erfüllt war, stieß dem Jungen mit einem Finger gegen die Brust. »Wo wohnst du?«
»Auf dem Newski-Prospekt.«
»In diesen prächtigen Häusern? Du bist der Sohn eines reichen Arztes. Du warst wahrscheinlich noch nie in einer solchen Gegend, was?«
»Natürlich war er das! Erzähle es ihm, Juri«, sagte Nina, die den Jungen mit Bewunderung in den Augen beobachtet hatte.
»Mein Vater bringt in ganz Sankt Petersburg Babys zur Welt«, erwiderte Juri kühl. »Und wir sind nicht reich. Wenn du mich noch einmal anstößt, knall ich dir eine!«
Der Ton des Jungen ließ vermuten, dass er es ernst meinte. Das war kein reicher, eitler Fatzke. Leonid Jakow gab es nicht gerne zu, doch er bewunderte Juri Andrew, weil er sich nicht so leicht einschüchtern ließ. Der Junge hatte Charakter.
Nina musterte ihn mit besorgtem Blick. »Warum bist du böse, Leonid Jakow?«
Das Mädchen war so hübsch, dass Leonid ihm kaum in die Augen blicken konnte. Wenn du arm wärst und in diesem Elendsviertel wohnen würdest, wärst du auch böse, dachte er. Doch dieses Mädchen hatte keine Ahnung von dem rauen Leben ringsherum.
Plötzlich hörten sie über ihren Köpfen Babygeschrei. Leonid flitzte die Treppe des Mietshauses hinauf und drückte die Tür auf.
Seine erschöpfte Mutter lag auf dem Bett. Ihr Gesicht war schweißüberströmt, und sie hielt ein kleines Bündel in den Armen. Die Nachbarin wischte das Blut vom Boden auf, während der Arzt seine Hände in einer Schüssel mit heißem Seifenwasser wusch.
Auf seiner Stirn glänzten die Schweißtropfen, doch das Babygeschrei, das durch den Raum hallte, hatte die Anspannung aus seinem Gesicht vertrieben. Der Doktor strahlte. »Gute Nachrichten, Leonid Jakow. Deine Mutter wird wieder gesund, und du hast einen kleinen Bruder!«
In dieser Nacht schneite es. Leonid blieb bei seiner schlafenden Mutter. Der Arzt, Juri und Nina waren weggefahren, und Leonid machte sich schreckliche Sorgen.
Seine Mutter konnte in diesem Zustand nicht arbeiten, also hatten sie nichts zu essen. Verzweifelt starrte er auf das winzige, rosige Gesicht seines kleinen Bruders. Die Hilflosigkeit des süßen Babys, das er in den Armen wiegte, bezauberte ihn. Er war erstaunt, dass dieses kleine Wesen sofort seinen Beschützerinstinkt und seine Liebe weckte.
Was kann ich tun, um zu helfen?, fragte er sich. Er war fast elf, doch auch schon neunjährige Kinder arbeiteten in Fabriken, Backstuben und auf Märkten oder als Schornsteinfeger oder Laufjungen. Leonid war ein guter Schüler. Er konnte lesen und schreiben, aber nun war es vorbei mit der Schule. Er beschloss, dass er Lebensmittel stehlen würde, wenn er keine Arbeit fand, doch die Sorgen brachten ihn fast um.
Um kurz nach Mitternacht hörte er eine Droschke unten auf der Straße. Kurz darauf stieg jemand die Treppe des Mietshauses hinauf, und dann klopfte es. Leonid legte seinen Bruder zur schlafenden Mutter. Er durchquerte den Raum und öffnete vorsichtig die Tür.
Der Doktor war zurückgekehrt. Diesmal hatte er zwei Strohkörbe, ein Kinderbett und Bettzeug mitgebracht. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen und sah müde aus. »Darf ich reinkommen, Leonid Jakow?«
»Ja, Herr.«
Der Arzt stellte die
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