Operation Romanow
Nacht.
»Es wird Zeit, und vergessen Sie nicht zu beten«, sagte Andrew. Er gab Tarku ein Zeichen, ihm zu folgen, und trat hinaus.
Als sie durch den Schnee zu der mit Stacheldraht gesicherten Umzäunung am Westtor stapften, sahen sie Sturmlampen, die die Baracke der Wächter erhellten. »Sehen Sie den winzigen Lichtpunkt am Horizont hinter den Toren?«
Tarku blinzelte durch seine zerbrochene Brille und erkannte nur mit Mühe den schwachen Fleck in weiter Ferne, der aussah wie ein flimmernder Stern. Er wusste aber, dass es die helle Stirnleuchte einer Lokomotive war. »Der Zug aus Omsk kommt pünktlich.«
»Uns bleiben ungefähr zehn Minuten, ehe er das Lager passiert.« Andrew näherte sich dem Tor des Lagers, das doppelt und dreifach mit Stacheldraht gesichert war. Zwei Wachen hoben ihre Gewehre. »Halt, wer da?«
»Die Gefangenen Tarku und Andrew möchten zu Kommissar Jakow«, sagte Andrew.
Die Tür der Wachbaracke wurde geöffnet, und Feldwebel Mersk, der große, kräftige Ukrainer mit dem schwarzen Schnurrbart und der Mütze aus Schaffell, trat hinaus. Sein linker Arm war verbunden, und er hatte eine höllisch schlechte Laune. »Was zum Teufel machst du hier, Andrew? Ich könnte dich erschießen, weil du dich nicht an die Ausgangssperre hältst!«
»Das wäre ein großer Fehler, Mersk. Der Kommissar will mich sehen.«
Mit wutverzerrtem Gesicht ging der Ukrainer auf die beiden zu. In der rechten Hand hielt er eine Furcht erregende kurze Kosakenpeitsche, eine Nagaika, an deren Ende eine Metallspitze eingeflochten war. Er drückte Andrew den Griff der Peitsche ins Gesicht. »Glaub ja nicht, dass du mit dem Ärger, den du heute gemacht hast, davonkommst, du zaristischer Scheißkerl. Was hast du mit Jakow zu besprechen?«
»Fragen Sie ihn selbst.«
»Ich frage dich!« Mersk hob die Hand und verpasste Andrew einen Schlag mit dem Griff der Peitsche.
Andrew wich zurück.
»Du warst immer ein Unruhestifter«, sagte Mersk. Er warf die Peitsche auf den Boden und zog mit der rechten Hand einen Nagant-Revolver aus dem Holster. Ein leises Klicken war zu hören, als er den Hahn spannte. Grinsend richtete Mersk den Lauf auf Andrews Kopf. »Er hat versucht zu fliehen, und ich habe ihn erschossen. Ihr werdet mich beide decken, verstanden?«, sagte er zu den Wachen.
Die Männer hoben ihre Gewehre. »Wir machen, was Sie sagen, Feldwebel.«
Mersk grinste breit. »Und ich sage, wir erschießen diese beiden Verräter, weil sie versucht haben zu fliehen.«
In nächster Nähe wurde ein Gewehr durchgeladen, und jemand sagte: »Ich an Ihrer Stelle würde den Revolver fallen lassen, Genosse Feldwebel. Sonst enden Sie an einer Wand und werden erschossen.«
Dort stand mit einem Gewehr in der Hand Stanislaw, dessen Atem in die eisige Luft aufstieg. Er trat näher heran und drückte dem Ukrainer den Lauf der Waffe in den Nacken. »Ich habe gesagt, Sie sollen den Revolver fallen lassen. Mein Bruder möchte mit dem Hauptmann sprechen.«
Der Ukrainer verzog das Gesicht und warf den Revolver in den Schnee. »Sie sollten Vorgesetzten gegenüber mehr Respekt zeigen, Jakow.«
»Ach ja? Ich dachte, einer der Gründe, warum wir die Revolution begonnen haben, war, dass wir den Unsinn mit diesem ganzen ›Respekt vor den Vorgesetzten‹ abschaffen wollten.« Stanislaw hielt das Gewehr noch immer auf den Ukrainer und fragte Andrew: »Wer ist dein Freund, Juri?«
»Unteroffizier Tarku. Er soll dabei sein, wenn ich mit Leonid spreche.«
Stanislaw dachte kurz nach, trat dann zurück und öffnete das Tor für die beiden. »Kommt mit.« Er nahm eine der Öllampen, die an der Baracke hingen, und sagte zu Mersk: »Ich leihe mir die Lampe aus, wenn Sie nichts dagegen haben. In Zukunft wäre ich an Ihrer Stelle vorsichtiger und würde die Befehle des Kommissars befolgen. Gute Nacht, Genosse.«
Mersk sah den drei Männern nach, die auf das Nebengleis zugingen, auf dem Jakows Zug stand. Die Augen des Ukrainers funkelten hasserfüllt. Blind vor Wut hob er den Revolver aus dem Schnee auf, steckte ihn in sein Holster und nahm die Peitsche in die Hand. »Was glaubt dieser kleine Scheißkerl, wer er ist, dass er so mit mir redet? Nur weil er Jakows Bruder ist!«
Einer der Wachmänner grinste. »Der Junge hat Sie in Ihre Schranken gewiesen, Feldwebel. Lassen Sie ihm das etwa durchgehen?«
Die Peitsche des Ukrainers sauste durch die Luft und schlang sich um den Hals des Wachmanns. Der Mann stieß ein leises Keuchen aus, als Mersk ihn zu sich heranzog.
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