Operation Romanow
Sei lieb zu ihr.«
Zärtlich strich der Arzt Leonid über den Kopf. Dann stand er auf und reichte ihm ein kleines braunes Fläschchen. »Ich komme morgen wieder. Wenn deine Mutter Schmerzen hat, soll sie eine Tablette davon nehmen. Wenn du mich brauchst, hole mich zu jeder Tages- und Nachtzeit. Ich komme sofort.«
Der Arzt warf Ljudmila Jakowa, die noch immer schlief, einen letzten Blick zu und strich dann behutsam über die abgegriffenen Rücken der Bücher neben dem Bett. »Deine Mutter liest viel, nicht wahr?«
»Jeden Abend, Herr.«
Andrew nahm eines der Bücher in die Hand. »Sie mag Tolstoi.«
»Ja, Herr.«
»Darf ich dir sagen, was Tolstoi einst geschrieben hat, Leonid?«
»Ja, Herr.«
»Er schrieb über unsere Verpflichtung als Mensch anderen gegenüber. Er schrieb, dass wir Liebe und Zärtlichkeit, die uns geschenkt werden, immer dankbar annehmen sollten. Und dass es unsere Aufgabe ist, Leid zu lindern, sobald wir eine Seele in Not treffen. Verstehst du das, Leonid?«
Leonid verstand es nicht. Dennoch nickte er zögernd. »Ja.«
Ein feines Lächeln umspielte die Lippen des Arztes, als er einen Briefumschlag auf den Tisch legte. »Vielleicht verstehst du es noch nicht ganz, aber ich hoffe, dass du es eines Tages begreifen wirst. Bitte nimm auch das hier, Leonid. Ich sage jetzt Gute Nacht. Pass gut auf dich und deinen Bruder auf!«
Mit diesen Worten ging der Doktor hinaus. Seine Schritte verhallten im Treppenhaus, und als die Droschke durch die verschneite Nacht davonfuhr, lauschte Leonid, bis das Getrappel der Pferde verstummte. Verwirrt öffnete er die Körbe, und als er sah, was sie alles enthielten, riss er ungläubig die Augen auf.
Er fand Büchsenfleisch, verschiedene Marmeladen, Dosen mit Heringen und Sardinen, einen ganzen Sack Kartoffeln, getrocknetes Getreide, Gewürze, Mehl, Milchpulver, eine Dose Tee und ein großes Glas mit kleinen Gewürzgurken. Und Kleidung für ihn und seine Mutter – Pullover, zwei dicke Wollschals, Hemden und Socken. Einiges war neu und anderes gebraucht, aber es waren alles warme, gebügelte Sachen. Es befanden sich auch Decken, Babykleidung und frisch gewaschene Betttücher darunter, die nach Flieder dufteten. Leonid vergrub das Gesicht in der Wäsche und atmete den angenehmen Duft ein. Die Gefühle überwältigten ihn, und er bekam feuchte Augen.
Als Leonid den Umschlag aufriss, den Dr. Andrew auf den Tisch gelegt hatte, fand er fünfzig Rubel. Dafür musste seine Mutter monatelang arbeiten. Außerdem steckte in dem Umschlag eine kurze Mitteilung in gestochener Handschrift mit einer Adresse.
Ein paar Lebensmittel, um euch zu helfen, Leonid. Du bist ein sehr mutiger Junge. Mach dir keine Sorgen um die Zukunft. Ich werde da sein, um zu helfen.
Dr. Andrew
Es lag noch ein kurzer Brief in der sauberen Handschrift eines Kindes dabei, in dem stand:
Ich habe mich gefreut, dich kennenzulernen, Leonid Jakow. Es ist schön, dass es deiner Mutter gut geht und dass du einen kleinen Bruder hast. Ich hätte auch gerne einen. Vielleicht können wir uns deinen Bruder teilen? Dann können wir alle drei wie Brüder sein. Hoffentlich sehen wir uns wieder. Liebe Grüße von Nina.
In den nächsten Jahren gab es so vieles, wofür Leonid dem Doktor dankbar war. Doch als er in dieser Nacht auf die beiden mit Lebensmitteln und warmer Kleidung gefüllten Strohkörbe und seine erschöpfte Mutter und den kleinen schlafenden Bruder sah, konnte Leonid Jakow nur weinen. Ein lautes Schluchzen entfuhr ihm, und ein wundervoll warmes Gefühl des Trostes und der Dankbarkeit und ein neu entdeckter Glaube an die Güte der Menschen erfüllten ihn.
13. KAPITEL
Sibirien
Als die Tür aufgerissen wurde, kehrte Jakow schlagartig in die Gegenwart zurück. Er konnte kaum glauben, dass seit der Geburt des Bruders über sechzehn Jahre vergangen waren. Ein Windstoß fegte durch den Wagen, als Stanislaw eintrat. Er sah in seiner viel zu großen Uniform fast wie ein Kind aus, das die Kleider des Vaters anprobierte. »Sie haben nach mir gerufen, Kommissar?«
Jakow wärmte seine Hände am Ofen. »Entspann dich. Wir sind hier nicht bei der Parade, kleiner Bruder. Hast du noch immer Wachdienst?«
Stanislaw trat zu ihm und rieb sich ebenfalls die Hände. »Bis Mitternacht, und es ist eiskalt draußen. Hast du schon was von Juri gehört?«
»Nein. Darum wollte ich dich sehen. Ich möchte, dass du mit ihm sprichst.«
»Warum sollte Juri auf mich hören?«
»Weil er eine Schwäche für dich hat. Juri
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