Operation Romanow
hat dich immer als kleinen Bruder angesehen. Er vertraut dir.«
Stanislaw runzelte besorgt die Stirn. »Du weißt, dass wir es beide nicht ertragen könnten, wenn er hingerichtet wird. Du hast doch gesagt, du hast einen Plan, Leonid!«
»Wenn man es so nennen kann. Erinnere Juri dran, welche Verantwortung er seiner Frau und seinem Sohn gegenüber hat. Mach ihm das unmissverständlich klar. Appelliere an seinen gesunden Menschenverstand. Einen Versuch ist es wert.«
»Und wenn er trotzdem ablehnt?«
»Sag ihm, dass ich alle seine Männer in unserem Zug zu dem anderen Lager bringe. Niemand muss laufen und niemand wird sterben. Ich gebe ihm mein Wort, wenn er zustimmt. Das ist mein Plan. Da Juri seinen Männern gegenüber ein ausgeprägtes Pflichtbewusstsein hat, müsste ihn das überzeugen. Geh nach deinem Wachdienst zu ihm.«
»Aber du würdest dich Lenins direktem Befehl widersetzen. Dafür kannst du erschossen werden.«
Jakow legte eine Hand auf Stanislaws Schulter. »Das ist mein Problem, kleiner Bruder. Sorge du nur dafür, dass du Juri zur Einsicht bringst.«
Kurz vor Mitternacht hörte Andrew das vereinbarte Klopfzeichen. Jemand klopfte viermal kurz hintereinander ans Fenster. In dem kleinen Raum war nur das Schnarchen der anderen Gefangenen zu hören. Mit der Decke über den Schultern stand Andrew auf und trat an die von Raureif überzogene Fensterscheibe. Er wiederholte das Klopfzeichen, ging dann zur Tür und schob den Riegel zur Seite.
Unteroffizier Tarku trat ein und blinzelte hinter den beschlagenen Brillengläsern. Er trug eine Pelzmütze, einen Wollschal, Fäustlinge und zwei Mäntel. Die Stiefel waren von einer dicken Schneeschicht bedeckt, und er hatte den Arm voller Kleidungsstücke. »Hauptmann Wilsk hat einen Mantel gespendet, Herr«, flüsterte er. »Und Sie können einen meiner Pullover haben. Nehmen Sie die Decke am besten mit. Draußen ist es eiskalt.«
Andrew schloss die Tür und nahm dankbar die Kleidungsstücke entgegen. Tarku half ihm, den Mantel über seine Schultern zu legen und ihm den Pullover wie einen Schal um den Hals zu binden. »Sind Sie sicher, dass Sie es mit Ihren Wunden schaffen, Herr?«
»Es muss gehen. Gab es Probleme auf dem Weg hierher?«
»Nein. Die Aufseher sind mit der Wachablösung beschäftigt.« Tarku zog ein Furcht einflößendes Schlachtermesser unter dem Mantel hervor. Der Stahl glänzte in dem spärlichen Licht, das durch die von Eisblumen überzogene Fensterscheibe in den Raum fiel. »Ich habe eine Waffe gegen einen wertvollen Goldring getauscht. Von Beruf bin ich Juwelier, Herr, und es ist mir tatsächlich gelungen, den Ring über all die Zeit zu verstecken.«
»Ich frage Sie lieber nicht, wo. Denken Sie daran, das Messer nur zu benutzen, wenn es unbedingt sein muss.«
»Wie ist der Plan, Hauptmann?«
»Ganz einfach. Wir beide verlassen das Lager durch das Haupttor.«
Der Unteroffizier riss den Mund auf und steckte das Messer wieder in die Tasche seines Mantels. »Das ist wohl ein Scherz, Herr!«
»Es muss genau der richtige Augenblick sein. Wir müssen das Tor passieren, kurz bevor der Zug aus Omsk am Lager vorbeifährt, sodass wir Zeit haben, auf den Zug zu springen.«
»Wie machen wir das?«
»Jakows Zug steht auf einem Nebengleis, an dem unser Zug vorbeifährt. Er erwartet mich, um mit mir über seinen Vorschlag zu sprechen. Wenn wir es irgendwie hinkriegen, dass die Wachen uns zu Jakow bringen, müssen wir sie im richtigen Moment ausschalten und auf den Zug aus Omsk springen.«
»Aber Jakow will nur mit Ihnen sprechen!«
Andrew ging zur Tür. »Überlassen Sie das mir.«
»Das hört sich riskant an. Was, wenn Alarm geschlagen wird und Jakow uns mit seinem Zug folgt?«
»Es dauert mindestens eine Viertelstunde, bis sie den Kessel von Jakows Lokomotive angeheizt haben, und noch länger, bis sie uns eingeholt haben. Wir hätten auf jeden Fall einen Vorsprung. Selbst wenn er zur nächsten Station telegrafiert, hätten wir bis dahin schon den Zug verlassen und wären auf dem Weg nach Perm.«
Andrew schob leise den Riegel zur Seite und spähte hinaus. Ein paar Stimmen hallten durch die Winternacht, als die Wachen während der Wachablösung miteinander sprachen. Das Lager schien zu schlafen. Es hatte aufgehört zu schneien, der Horizont war pechschwarz. Wolkenfetzen zogen über den silbernen Mond hinweg. Hinter den Toren des Gefangenenlagers erstreckte sich, so weit das Auge reichte, ein undurchdringlicher Wald, der so schwarz war wie die
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