Operation Romanow
unterhielt, beklagte sich ständig, dass ihr ›Baby‹ nicht einmal achtzig Pfund wog. »Du hast Glück, dass ich keine Lust habe zurückzuschlagen.«
Ihr Bruder lächelte. »Glück? Du wirst immer nachgiebiger, Anastasia.«
Die beiden Käfer blieben am Ende des Tisches stehen, obwohl Alexej sie mit dem Finger anstieß.
»Du könntest ebenso gut Schnecken nehmen«, sagte seine Schwester gelangweilt.
Alexej nahm die Käfer vom Tisch und setzte sie in eine Streichholzschachtel.
Die Wachen, die durch den Garten liefen, kamen an ihnen vorbei und warfen ihnen aufmerksame Blicke zu. Als sie außer Hörweite waren, flüsterte Alexej: »Was, glaubst du, hat auf dem Zettel gestanden?«
»Ich hab dir doch gesagt, dass ich keine Zeit hatte, ihn zu lesen.«
»Maria meint, er muss von einer Gruppe gewesen sein, die Papa treu ergeben ist und uns retten will. Meinst du wirklich, sie werden uns retten, Sestritschka? «, fragte Alexej und sah sie mit großen, traurigen Augen an.
»Ich glaube, sie werden es tun – irgendwann«, erwiderte Anastasia.
In diesem Augenblick hörte sie ihre Schwestern singen. Tatjana, Olga und Maria spazierten nebeneinander durch den hinteren Teil des Gartens und sangen ein Schlaflied. Die Wachen beobachteten sie immer mit besonderem Interesse, vor allem, wenn die Zarentöchter ihre hübschen Kleider trugen.
Doch auch Olga und Tatjana wurden wie ihr Bruder immer magerer. Die Gefangenschaft, das armselige Essen und die Anspannung, nicht zu wissen, was als Nächstes mit ihnen geschehen würde, zehrten an ihren Kräften.
Alexej steckte die Streichholzschachtel in seine Tasche. Dann zog er ein Taschentuch heraus und wickelte ein Stück Bries aus, das der Koch ihm heute Morgen geschenkt hatte. Er biss ein Stück ab, ehe er den Rest wieder in das Taschentuch wickelte und in die Tasche steckte. »Sie lassen sich aber verdammt viel Zeit, um uns zu retten, nicht wahr?«
»Ist das Taschentuch sauber?«, fragte Anastasia.
»Ziemlich. Erst ein paar Tage alt.«
»Alexej! Ich habe gestern gesehen, dass du dir die Nase damit geputzt hast!«
»Nur ganz kurz. Es ist ziemlich sauber. Olga hat gesagt, dass die Novizinnen Marija und Antonina uns heute frisches Brot, Eier und Käse bringen. Glaubst du, das stimmt?«
»Wenn die Wachen nicht das meiste für sich behalten – ja, vielleicht.«
Anastasias Aufmerksamkeit wurde auf ein Fenster im ersten Stock des Hauses gelenkt. Es war das einzige Fenster in ihrer Wohnung, das der Kommandant ihnen erlaubt hatte, zu öffnen. Dort sah sie jemanden stehen, der zu ihr hinunterstarrte.
»Was ist los?«, fragte Alexej.
»Da steht jemand an unserem Fenster und beobachtet uns.«
»Du meinst den Kommandanten?«
»Nein, nicht den Dummkopf. Es ist ein Mann, den ich noch nie gesehen habe. Er trägt eine Lederjacke.«
37. KAPITEL
Ipatjew-Haus, Jekaterinburg
Jakow hielt sich in der Wohnung im ersten Stock auf und beobachtete die Familie durch das geöffnete Fenster. Ihre Stimmen drangen aus dem verwilderten Garten zu ihm hinauf.
Doch er verstand nichts, denn das leise Gemurmel wurde von Gesang übertönt. Drei der Schwestern sangen ein Schlaflied, das er kannte. An einem Ende des Gartens beugten sich der gebrechliche Junge und das Mädchen namens Anastasia über eine Gartenbank. In der Nähe plauderte der ehemalige Zar mit seiner Frau, die in einem Rollstuhl saß. Sie sahen in ihrer abgetragenen Kleidung alle ein wenig heruntergekommen aus.
»Wissen Sie, was ich seltsam finde, Kommissar?«, sagte Jurowski, der Kommandant.
»Was?«
»Wie konnten die Russen nur jemals glauben, die Romanows wären gottgleiche Wesen? Das sind sie doch nicht, oder? Sie sind nicht mehr als gebildete Bauern.«
Er hat recht, dachte Jakow. Er wunderte sich, dass die Mitglieder der Zarenfamilie wie ganz gewöhnliche Menschen aussahen.
Als Jakow die Treppe zum Quartier der Romanows hinaufstieg, sah er auf dem Treppenabsatz eine ausgestopfte Bärenmutter und ihre Jungen. Am Ende des Ganges stand der abgenutzte Rollstuhl eines Kindes.
»Der Junge ist wirklich ein Krüppel«, sagte der Kommandant verächtlich. »Seine Beine sind so schwach, dass der Vater ihn überallhin tragen muss. Er leidet an einer seltenen Krankheit, die dazu führen kann, dass er verblutet. Und er hat oft Schmerzen, weil er leicht blaue Flecken bekommt. Wir erlauben der Mutter, seine Beschwerden mit Eisbeuteln zu lindern.«
»Und seine Schwester Anastasia?«
»Sie ist ein leidenschaftliches, temperamentvolles Mädchen.
Weitere Kostenlose Bücher