Opernball
hätten ihn flehend angeschaut, aber er konnte nichts tun für sie. Und dann sagte mein Vater noch: »Ich war froh, daß der Krieg bald zu Ende war. Wer weiß, wo ich noch hineingeraten wäre.«
Auch hat er gelegentlich davon gesprochen, wie die jüdischen Kollegen aus der Universität rausgeworfen wurden. Das Schicksal eines Mathematikers in seinem Alter lag ihm besonders am Herzen. Der konnte mit seiner Familie zwar zunächst fliehen, aber in Frankreich wurden sie aufgegriffen und nach Auschwitz deportiert. Sie haben nicht überlebt. Das hat mein Vater öfters erzählt. Nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, er könnte Mitglied der Partei gewesen sein.
Die Polonaise ging zu Ende. Der Donauwalzer wurde intoniert. Während die Debütanten Linkswalzer tanzten, ging der Zeremonienmeister vor dem Orchester ein paar Stufen hinauf, nahm ein Mikrophon zur Hand und sagte: »Alles Walzer.«
Mein Vater beobachtete regungslos das Geschehen. Schlagartig füllte sich das Parkett mit Menschen. Es wurde so eng, daß sich die Tanzpaare kaum noch drehen konnten. Er hielt noch immer meine Hand. Plötzlich sagte er: »Einmal möchte ich sie noch treffen. Meinst Du, wir könnten das morgen arrangieren?«
Ich hatte alle Mühe, mir nichts anmerken zu lassen.
»Mal sehen«, sagte ich. Dabei schloß ich die Augen, denn es war mir, als wollte es mich zerreißen. Wir hatten nämlich für Vater als besondere Geburtstagsüberraschung ein Rendezvous mit seiner ehemaligen Geliebten vorbereiten wollen. Sigrid hatte sich anfangs dagegen gesträubt. Aber dann hatte sie doch alte Vorlesungsverzeichnisse durchgesehen, um herauszufinden, wer die Assistentin der Theaterwissenschaft gewesen sein könnte. Es gab nur eine, die anderen waren Männer. Sie war später tatsächlich Professorin und hatte in den Who is who Eingang gefunden. Aber Sigrid konnte ihre Adresse nicht ausfindig machen. Bis sie dahinterkam, daß sie schon gestorben war. Wir wollten es Vater erst nach dem Opernball sagen.
Er war gedankenverloren. Doch auf einmal schlug er mit der Hand auf die mit rotem Samt überzogene Brüstung, nahm das Glas und prostete uns zu.
»So«, sagte er, »und jetzt gehen wir tanzen.«
Ich wollte ihn davon abhalten, aber er gab nicht nach. Natürlich tanzte er nicht wirklich. Er hielt mich eng umschlungen und wackelte mit der linken Hand. Das war nicht weiter schlimm, weil es ohnedies viel zu eng war. Er schmeichelte mir. Er nannte mich seine »Lieblingstochter«. Er sagte, ich solle es ihm nicht länger übelnehmen, daß er am Anfang gegen Herbert war. Es sei reine Eifersucht gewesen.
»Komisch«, sagte er und streichelte mir dabei den Rücken, »Deine Heirat hätte ich am liebsten verhindert, bei Sigrid habe ich immer gehofft, daß sie endlich heiratet. Ich war immer ungerecht.«
Er war rührend in seinen Selbstbekenntnissen. Was sollte ich darauf antworten. Natürlich wußte ich, daß ich seine Lieblingstochter war. Und ich hatte auch sein ewiges Argument »Du bist zu jung« nie aus dem Ohr verloren, das um so lächerlicher wirkte, je öfter er es wiederholte. Ich habe jung geheiratet, und mein Vater hat sich bis zuletzt dagegen gesträubt. Er schwenkte erst um, als er sah, daß es aussichtslos war. Dann konnte ihm die Hochzeit nicht teuer und feierlich genug sein. Er wußte, daß ich mein eben erst begonnenes Medizinstudium abbrechen würde. Und obwohl ich das Gegenteil beteuerte, wußte ich es auch. Ich habe geheiratet, um nicht länger zur Universität gehen zu müssen. Als wir kaum ein Jahr nach unserer Hochzeit nach Frankfurt zogen, stand ich vor der Frage, ob ich nun weiterstudieren solle. Herbert sagte: »Das hast Du nicht nötig. Ich sorge für Dich.«
Hätte ich eine Tochter, ich würde ihr mit allem Nachdruck abraten, sich darauf einzulassen. Aber für mich war es eine Befreiung. Mit einemmal hatte ich das Gefühl, Vater würde das nun verstehen.
Sigrid hatte immer seine Achtung gehabt. Er war stolz auf sie. Und ich fühlte mich gegenüber ihren Erfolgen als Versagerin. Es tat mir gut, nun zu hören, was ich im Grunde immer gewußt hatte. Mein Vater versuchte langsame Drehbewegungen. Er lachte mich an, ich weiß nicht, wie. Wäre es nicht mein Vater gewesen, würde ich sagen: verliebt. Das irritierte mich keineswegs, im Gegenteil, ich genoß es. Aber ich warf heimlich Blicke zu Herbert. Er sollte es nicht zu sehr merken. Über diese Art von Rivalität kann man nicht sprechen. Wenn mein Vater Herbert zu seinen erfolgreichen
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