Opernball
Er konnte unglaublich lang lachen. Dann mußten wir ihm alle bestätigen, daß wir ohnedies nie daran geglaubt haben, daß er uns den Fernseher abschießen würde. Wir sagten, wir seien nur einen Moment irritiert gewesen. Da begann er wieder unendlich lange zu lachen, nahm zwischendurch ein Bier aus dem Kühlschrank und lachte weiter. Aber wir hatten nichts versäumt, das Rennen war verloren.
Nach der Herrenabfahrt wurde der zweite Slalomdurchgang der Damen aus Haus im Ennstal übertragen. Grund genug, noch ein wenig sitzen zu bleiben.
»Wer will kein Bier?« Der frisch ernannte Gruppeninspektor fragte immer so verkehrt herum. Die Antwort wäre sinnlos gewesen, ein unnützer Stimmbandverschleiß. Seit es die Gemeinschaftskasse für Wein und Bier gab, deren sorgsame Verwaltung zu den Pflichten des Journaldienstes zählte, schlossen sich immer alle an, wenn jemand Alkohol trank. Schließlich mußte ja auch jeder seinen Monatsbeitrag leisten, oft gab es am Monatsende sogar eine Nachzahlung. Das alte System, bei dem jeder bezahlte, was er gerade trank, hatte sich nicht bewährt. Am Schluß war die Bierkiste leer gewesen und die Kasse auch.
Das zweite Schirennen machte keinen Spaß. Einige begannen, Zeitung zu lesen. Die Titelseiten verkündeten eine Schlacht. Sechstausend würden wir sein, stand da. Offenbar wollten unsere Oberen die Chaoten abschrecken. Wären wir nur sechstausend gewesen, dann hätten wir auch Zeit gehabt, im Burggarten nachzuschauen, bei den Entlüftungsschächten der Oper.
Die Bewährungsprobe
Nie im Leben wäre ich auf die Idee gekommen, nach Wien zu übersiedeln. Die Erinnerungen meines Vaters lagen wie Giftschwaden über den grauen, imperialen Fassaden dieser Stadt. Lehrer, die Kindern mit Rohrstöcken auf die Finger schlagen, Polizisten, die auf Arbeiter schießen, Studenten, die Juden aus der Universität prügeln, Sozialisten, die am Abend in einer heimlichen Parteiversammlung den Widerstand proben und am nächsten Tag, mit einem Hakenkreuz am Revers, Hitler entgegeneilen. Das gegenwärtige Wien kannte ich nicht. Zwar war ich über die politischen Verhältnisse einigermaßen informiert, aber es gab selten etwas, was nach einer Reportage verlangt hätte. Österreich wurde für uns erst interessant, als sich Bruno Kreisky, ein breiter Mann mit erhobenem Zeigefinger, in die Weltpolitik einzumischen begann. Ich brachte ihn in einer Reportage über den Palästinakonflikt ins Bild, als er, zum Entsetzen vieler Briten, Arafat umarmte. Der damalige Sekretär des Londoner Büros der Sozialistischen Internationale war ein österreichischer Vielredner. Bei einem Smalltalk fragte ich ihn herausfordernd, ob die österreichische Regierung sich nun wieder den Gangstern zuwende. Er verteidigte Kreiskys Seriosität und Kultiviertheit mit einem Schwall von Argumenten, von denen eines besonders hervorstach: Er sei von Kreisky persönlich beauftragt worden, ihm englische Seidenunterwäsche zu besorgen. Natürlich konnte ich diese Anekdote nicht für mich behalten, was zur Folge hatte, daß der Informationsstrom von der Sozialistischen Internationale zur Dokumentationsabteilung der BBC kurz darauf versiegte.
Ernsthaft zu tun hatten wir mit Österreich nur nach zwei Terroranschlägen, einem auf das OPEC-Hauptquartier und einem auf die jüdische Synagoge in Wien. In beiden Fällen bekamen wir das Filmmaterial vom Österreichischen Rundfunk zugespielt. Österreich verschwand wieder aus unseren Studios. Bis Kurt Waldheim zum Präsidenten gewählt wurde. Ich wehrte mich mit Händen und Füßen, nach Wien zu fahren. Mein damaliger Chef gab erst nach, als ich sagte: »Ich kann nicht objektiv über eine Bevölkerung berichten, die meine Großeltern achselzuckend ihren Mördern überließ.«
Die Kollegin, die statt meiner nach Wien fuhr, sprach zwar kein Wort deutsch, aber sie brachte eine Menge interessantes Filmmaterial mit. Darunter Interviews mit jungen Leuten, die sich, aus Protest gegen Waldheim, täglich um ein hölzernes Pferd versammelten. Mein Grau-in-Grau-Bild von Wien bekam Farbtupfen. Mehr noch als der Widerstand gegen ein flapsiges Verharmlosen der österreichischen Vergangenheit erstaunte mich der Bildhintergrund dieser Aufnahmen. Bunt bemalte Barockfassaden, Jugendstilcafés, Straßenmusikanten, Marktstände mit südländischer Geschäftstüchtigkeit, davor ein großstädtisches Gewimmel von Menschen unterschiedlichster Gesichter und Kleidungen. Die dumpfe Feindseligkeit, die ich mit Wien immer
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