Opernball
weshalb er täglich mit Vitaminpillen versorgt werde. Immer noch glaubte er an die schädlichen Strahlen, die alles, was in freier Natur wachse, durchdringen. Immer noch rauchte er eine Zigarette nach der anderen. Aber das waren gute Tage, an denen die Ersatzdrogen und beruhigenden Medikamente, die er bekam, ihre Wirkung zeigten.
Meist fand ich ihn in einem trostlosen Zustand vor. Er lag mit Tennisschuhen auf seinem Bett, rundherum alles voller Asche. Blitzschnell sprang er auf, schaute mich entgeistert an und sagte, ich solle sofort verschwinden, hier sei es viel zu gefährlich für mich. Er wurde von der Vorstellung geplagt, man habe ihn in ein Konzentrationslager gesperrt, mit dicken, unzerbrechlichen Glasscheiben, durch die ihm gnadenlos hohe Strahlendosen verabreicht werden. Manchmal vermutete er, ich arbeite mit den als Ärzte verkleideten Wärtern zusammen und sei ein Teil der Verschwörung. Seine Arme zuckten. Ich konnte sein Leiden nicht mitansehen und zweifelte immer mehr am Erfolg der Therapie.
Es gab Momente, in denen ich mit Fred darüber sprechen konnte. Einmal heulte er und meinte, es sei aussichtslos. Er werde es nie schaffen. Dann lief er auf die Toilette und erbrach sich. Die Ärzte wiederum versuchten mir Mut zu machen. Sein Fall sei zugegebenermaßen von einer gewissen Hartnäckigkeit, weil die psychotischen Störungen bei einer Reduzierung der Dosis sofort wieder aufträten, aber er sei, verglichen mit anderen Patienten, bei weitem nicht am schlimmsten dran. Eine langsame, wohldosierte Entzugstherapie bei gleichzeitiger psychischer Betreuung werde seinen Körper und seine Psyche wieder auf normale Lebensverhältnisse umstellen. Man müsse Geduld haben.
Die Zeit verstrich, ich zahlte mein gesamtes Gehalt an die Klinik, und es schien tatsächlich eine Besserung einzutreten. Die guten Tage wurden häufiger. Bis ich eines Abends laute Musik aus seinem Zimmer hörte. Ich klopfte, aber er antwortete nicht. Als ich die Tür öffnete, umgab mich ein Geruch von verkohltem Plastik. Der Kleiderschrank stand vor dem Fenster. Fred saß auf dem Boden und brannte mit der Zigarette Löcher in den feuerresistenten Spannteppich. Ich ging näher. Er bemerkte oder beachtete mich nicht. Ich schaute mir die Löcher am Boden an. Sie bildeten ein unvollendetes Hakenkreuz. Als ich die Musik abstellte, hob er mit mehreren kleinen, ruckartigen Bewegungen den Kopf. Er zog an seiner Zigarette und grinste.
»Ich arbeite jetzt mit ihnen zusammen.«
»Mit wem?«
»Mit den Nazis. Sie sehen ihr Zeichen – und lassen mich in Ruh.«
Er sprach langsam und dehnte die Vokale. Nach »Zeichen« machte er eine Pause.
»Fred«, schrie ich ihn an. »Das bildest Du Dir alles nur ein!«
»Wie bei Vampiren«, fuhr er fort.
»Deine Nazis gibt es ebensowenig, wie es Vampire gibt.«
»Du hast nie daran geglaubt. Aber die Strahlen sind weg.«
»Dann können wir ja den Schrank wieder zurückstellen.«
Er stand auf und wollte mir helfen. Der Schrank war aus leichten Metallplatten gebaut. Fred war nicht in der Lage, ihn auch nur ein Stück zu bewegen.
Ich ging zum diensthabenden Arzt. Er sagte, Fred habe am Nachmittag auf eine Therapeutin eingeschlagen. Sie hätten ihn leider wieder höher dosieren müssen. Es bestehe aber kein Grund zu übertriebener Sorge. Ein kleiner Rückfall, wie er häufig vorkomme. Ein süchtiger Körper wehre sich gegen den Entzug.
Ich erzählte ihm von den Löchern im Spannteppich.
»Ich weiß«, antwortete er mit beneidenswerter Seelenruhe. »Vor Ihrem Eintreffen habe ich ein paarmal nach ihm gesehen. Fred wird jetzt ohnedies immer müder und bald aufhören mit seinem Löcherbrennen. Dann werden wir lüften, und in ein paar Tagen gibt es einen neuen Spannteppich. Der Schaden ist durch eine Versicherung gedeckt.«
Es gab keine Hoffnung mehr, daß Fred die Klinik verlassen könnte, bevor ich nach Wien ging. Am nächsten Morgen sprach ich mit einer Kollegin darüber. Sie war in unserer Abteilung für Soziales und Gesundheit zuständig. Die Klinik, in der Fred sei, sagte sie, gelte als die beste Englands. Dann erzählte sie mir, sie habe vom amerikanischen Fernsehen einmal einen Bericht über ein Camp für Drogenabhängige übernommen. Das sei eine sehr harte Therapie, weil die Patienten mit Betreuern irgendwo in der Steppe ausgesetzt würden und zwei Monate lang von jedem Kontakt zur übrigen Welt abgeschnitten seien. Aber die Rückfallquote sei ungemein niedrig.
Ich fand die Kassette im Archiv. Obwohl ich
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