Opfer (German Edition)
seine Finger, was er als die speerförmigen Stäbe des Eisenzaunes erkannte, der die nebelverborgenen Flächen des Platzes umsäumte.
Schwarz, alles schwarz, so schwarz … Es musste Mitternacht sein. Schwarz, alles schwarz, so schwarz … Durch den langen, gewundenen Korridor der Welt pfeift der Wind, pfeift wie irre. Der Wind der Erinnerung. Ich kann ihn nicht hören. Wie lange – schwarz, alles schwarz, so schwarz – er so blieb, so an dem Zaun hing, wusste er nicht. Wie lange – aber es musste Mitternacht sein – er dort schwankte, dort murmelte, wie ein Blinder, wie ein Krüppel, wie ein Schwachsinniger, wusste er nicht, und es war ihm auch egal. Allmählich jedoch begann sein Murmeln deutlicher zu werden, begann zu künden von mehr als unsagbarem Unglücklichsein …
Also … also wird heute nacht Oviedo ihre Wärme genießen. Immer, immer wird es Oviedo sein oder jemand anders und wird er stehengelassen werden wie eine Giftpflanze, um in einem modrigen Sumpf zu verfaulen, stinkend, verschimmelnd, alles rings um sich verpestend. Sollte er diesen elenden, widerlichen, krebsgeschwürigen Zustand beenden? Sollte er endlich mal ein bisschen Mut beweisen? Und die Straße hinuntergehen? Und sie holen? Und sie mit sich nehmen? Er richtete sich gerade hoch, aber dann, schwankend, sich wieder am Zaun festhaltend, sah er Oviedos Gesicht und senkte den Kopf. Nein, er würde es nicht wagen. Er konnte es nicht. Er hatte Angst zu sterben …
Sterben … Eines, Tages werde er es müssen . Ein qualvoller Gedanke. Er begann zu zittern. Schweiß brach ihm aus.
»Der Tod ist weniger zu fürchten als nichts, so es weniger als nichts gäbe.« Sollte das, Montaigne, irgendein Trost sein? Oder: »Die totesten Tode sind die besten?« Oder: »… Der Tod ist ein Teil des Ichs …«?
Er zitterte noch ein bisschen mehr und schwitzte auch noch ein bisschen mehr und klammerte sich, entsetzt von der Aussicht, einmal endgültig ausgelöscht zu werden, fester an den Zaun. Um sein Zähneklappern unter Kontrolle zu kriegen, sagte er laut: »Dann schon lieber Francis als dich, Michel«, und auf Bacons Geheiß fasste er in seinen Schlitz, der noch offen war, und nahm seinen langen laschen Schwanz in die Hand, denn: »Keine Leidenschaft im Geist des Menschen ist so schwach, dass sie nicht die Todesfurcht bezwänge.«
Doch – er rieb seinen weichen Schwanz, rieb ihn so heftig, wie er es als Junge getan hatte – konnte man dazu Leidenschaft sagen? Kehrte er nicht bloß, wie Leute, die im Feuer umkommen, zu einem infantilen Vergnügen zurück? Er ließ seinen Schwanz los und zog den Schlitz wieder zu. Er nahm die andere Hand vom Zaun. Dann drehte er sich um.
Durch den Nebel spähend, sah er, dass er sich vor der Kathedrale befand. Er richtete sich hoch, setzte sich torkelnd in Bewegung und lief an Kirche und Pfarrhaus vorbei. Er musste Fortunes Haus finden. Er musste, musste . Vielleicht … Nachdem er die St. Ann Street überquert hatte, ging er weiter die Chartres hinaus. Und während er in der leeren Straße nach ihrem Haus suchte, sah er Augen in anderen Straßen und anderen Städten, Augen, die etwas zu erspähen suchten. Licht hinter Jalousien … Aber in diesen Häusern schimmerte kein Licht durch die Jalousien. Der feuchte Nebel war zu dicht. Er verbarg auch die Laterne, um die er jetzt kam, eine Laterne, die nicht verriet, wie spät es war, die überhaupt nichts verriet. Wo war das Haus nur, wo er heute früh gewesen war? Dann, durch eine Lücke in den Nebelschwaden, sah er es. Er blieb stehen. Dünne Lichtstreifen kamen durch die Ritzen zwischen den Fensterläden.
Er begann zu beben. In der zitternden Hand hielt er zwar keine verwelkte Geranie, doch die Straßenlaterne schlug wie eine Trommel des Todes, dröhnte, dröhnte dumpf, so dumpf, über dem grauen Schweigen eines Schlachtfeldes, das mit Leichen einander feindlicher Mächte bedeckt war, den zerbrochenen Leichen von Erinnerung und Verlangen, und jeder dieser grausigen Trommelschläge brachte ihm all die schreckliche Schmach und Gewalt ins Gedächtnis zurück, die er sich durch seine Schwäche, seine fatale Unfähigkeit, zu irgendwelcher Entscheidung zu kommen, selber angetan hatte und antat. Hingezogen zum brodelnden tiefen Kessel des Lasters, hingezogen zur opalisierenden flachen Schüssel der Tugend, wies er sie, nachdem er aus dem einen wie der anderen gekostet hatte, alle beide zurück und legte den rostfleckigen Schöpflöffel spekulativer Neugier nieder, um sich
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