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Opfer

Opfer

Titel: Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cathi Unsworth
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bevor er mit Edna reden musste.
    »Breaker break, hier spricht Deuce«, sagte er ins Mikrofon. »Ist hier jemand QRV?«
    Nichts als Rauschen. Wayne fluchte leise.
    »Deuce an Bald Eagle, hörst du mich?«, versuchte er es wieder.
    Bald Eagle war ein Taxifahrer. Mit bürgerlichem Namen hieß er Reg Styles, aber am Funkgerät hielt er sich für einen amerikanischen Trucker auf einsamer Fahrt durch die Nacht. Wayne wusste, dass er unterwegs war, samstags gab es schließlich am meisten zu tun. Die meisten anderen funkten bloß von zu Hause.
    Vor Wayne war die Straße leer. Er kippte den Rückspiegel, damit er auch das Stück hinter sich sehen konnte. Einmal noch , beschloss er.
    »Bald Eagle, hier ist Deuce. Bist du an der Quetsche, Kollege?«
    »Zehn-vier, Deuce, Bald Eagle ist gelandet«, knisterte endlich die Stimme des Taxifahrers aus dem Gerät. »Hast du sie immer noch nicht?«
    »Negativ«, erwiderte Wayne. »Wie lautet deine Zwanzig, Eagle?«
    »Hab gerade einen in Garveston abgesetzt und bin da eine Zeitlang hängengeblieben. Komme jetzt zurück über die Brücke. Sind heute ’ne Menge Kids unterwegs, aber auf deine Beschreibung passt bisher keine.«
    »Okay, hältst du weiter die Augen auf?«, fragte Wayne.
    »Krieg hier grad nur Matsch rein …« Eagles Stimme verebbte in starkem Rauschen. »Hören uns später wieder, Kollege.«
    »Zehn-zehn«, erwiderte Wayne und dachte: Ja, klar. Dich interessiert’s nur, wenn für dich dabei was rausspringt. Wie alle anderen hier .
    Er hängte das Mikrofon wieder ein und rollte weiter, bis er nur noch zwei Häuser von Ednas entfernt war. Hinter den Gardinen des Wohnzimmers brannte Licht, aber, Gott sei Dank, stand Erics Wagen nicht in der Einfahrt. Das geringere Übel , dachte er und nahm allen Mut für das Gespräch mit seiner zukünftigen Schwiegermutter zusammen.
    Auch nach der jüngsten Familienannäherung machte Ednas Auftreten Wayne nervös. Man hatte immer das Gefühl, jeden Moment könnte unter den kitschigen Kleidern und dem Haarhelm ein Hysterie-Vulkan ausbrechen. Amanda hatte ihm nie den Ursprung der Feindseligkeit zwischen ihren Eltern, ihrer Tochter und ihr selbst verraten. Dieses Geheimnis trug sie so tief in ihrem Inneren, dass sie es ihm womöglich erst in Jahrzehnten anvertrauen würde, wenn überhaupt. Doch schon nach ein paar Sekunden in der Gesellschaft dieser Familie hatte er so seine eigenen Vermutungen angestellt.
    Wayne öffnete den Gurt und sah ein letztes Mal in den Spiegel.
    Er sah zwei Beine entlang der Straße auf sich zukommen.
    Wayne ließ sich tief in den Sitz rutschen und kippte den Spiegel. Seine Augen hatten ihn nicht getäuscht – es war Samantha, wieder mit einer neuen Frisur und dem ausdruckslosen Blick, den sie oft bekam, wenn sie nicht gerade intrigierte, schrie oder so tat, als würde sie ihn anbaggern. Amanda hatte recht gehabt – immer rannte die Kleine irgendwann zurück zu ihrer Oma.
    Aber nicht, wenn er sie vorher zu fassen bekam.
    Er öffnete die Tür. Einen Augenblick starrte sie an ihm vorbei, als hätte sie nichts gehört. Dann packte er sie am Arm.
    »Was?« Sie starrte seine Hand an wie einen unerwarteten Fremdkörper. Dann schaltete sie und wurde lebendig. »Lass mich los!«, schrie sie.
    Aber von den vielen Stunden harter Arbeit hatte Wayne Kraft in den Armen. »Nein«, sagte er. »Diesmal rennst du nicht einfach zu deiner Oma. Du kommst jetzt mit mir nach Hause.«
    Mit der freien Hand kippte er den Fahrersitz nach vorne, drückte sie auf die Rückbank und ignorierte die wütenden Schreie und Tritte.
    »Deine Mutter ist ganz krank, solche Sorgen macht sie sich«, sagte er und fuhr los. »Bist du jetzt glücklich?«
    »Klar ist sie krank«, zischte Samantha, die zu alter Form auflief. »Aber das hat nichts mit mir zu tun.«
    Wayne konnte nicht anders. Er wusste, dass Amanda ihrer Tochter die Neuigkeiten selbst mitteilen wollte, aber in dem Moment musste er der kleinen Zicke einfach eins auswischen und die große Klappe stopfen.
    »Sie ist nicht krank«, schrie er und wendete scharf. »Sie ist schwanger.«

23
    KÖDER
    März 2003
    »So, Mr Ward, da haben wir den Mann, den Sie suchen.«
    Mrs Nora Linguard war eine kleine, adrette Frau mit eisengrauem Dutt, Faltenrock, cremefarbenem Pullover und Perlenkette. Seit dreißig Jahren war sie Schulkrankenschwester an der Ernemouth High. Sie sah Sean durch die fingerdicken Gläser ihrer Hornbrille an und lächelte, wobei sich in ihren runden Wangen Grübchen bildeten.
    Sie

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