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Opfer

Opfer

Titel: Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cathi Unsworth
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merkte, was sie tat. Sie sah hinunter auf ihre schmerzende Hand und dann hinüber zu Samantha, die in der Ecke hockte und sich die Wange hielt, während aus ihren Augenwinkeln Tränen quollen. Amanda kam es vor, als würde sie sie in Zeitlupe und durch einen langen Tunnel betrachten.
    »Du Schlampe«, flüsterte Samantha ungläubig. Sie zog sich an der Türklinke hoch. »Das wirst du büßen!«
    Sie rannte nach draußen und knallte die Tür zu, bevor Amanda wieder bei Sinnen war und sich der rote Nebel vor ihren Augen verzogen hatte.
    *
    Alex saß zurückgelehnt auf einer Bank am Town Square und beobachtete das stete Kommen und Gehen der Leute. Als er sich zum tausendsten Mal umsah, merkte er, dass der Zeiger der Uhr in dem Schaufenster hinter ihm sich erst eine Minute weiterbewegt hatte, obwohl es ihm wie zehn vorgekommen war. Er grub die Hände tiefer in die Taschen und verbarg das Kinn im Kragen. Ihm war kalt, und langsam kam er sich blöd vor. Die ganze Zeit hallten Debbies Worte ihm im Kopf wider wie Karusselmusik.
    Die hat sich mit Corrines Hilfe an dich rangeschmissen. Corrine hat ihr erzählt, wer du bist, und in welchen Pub du gehst, sie hat ihr an dem Abend sogar die Haare gemacht.
    Hast du überhaupt ’ne Ahnung, wie Samantha Lamb fünf Minuten bevor du sie kennengelernt hast, ausgesehen hat? Die hatte ’nen blonden Pagenkopf und rosa Stulpen!
    Und dann hatte seine Mutter ihm noch Stress gemacht, warum er denn Debbie zum Heulen gebracht habe. Und ihr Blick war ganz hart geworden, als sie ihn gefragt hatte, was er denn heute vorhabe. Als wenn sie das nicht gewusst hätte …
    Sie macht dich verrückt, weil du das perfekte Porträt von ihr zeichnen willst. Das schaffst du bloß nie, und weißt du auch, warum? Weil es den Menschen, für den du sie hältst, nicht gibt!
    Alex drückte sich von der Bank hoch. Er konnte nicht hierbleiben. Er saß jetzt schon eine halbe Stunde herum und hielt das Geschrei in seinem Kopf nicht mehr aus. Er drehte sich schwungvoll um und stieß mit jemandem zusammen, der in die andere Richtung unterwegs war.
    »Uff!« Alex blieb die Luft weg. Als er aufsah, erschrak er. Es war Julian.
    »Sorry, Alter.« Alex fasste ihn an der Schulter.
    »Kein Ding.« Julian hatte zuerst geschaut, ob seine Schallplatte noch heil war. »Nichts passiert«, sagte er, während seine Augen von der Plastiktüte zu Alex besorgtem Gesicht hinaufwanderten. Dann wurde Julians Blick unfreundlicher.
    »Gar nicht mit Samantha unterwegs?«, fragte er.
    Alex spürte einen Stich. »Nein.« Er warf einen Blick über die Schulter, für den Fall, dass sie in genau dem Moment auftauchte. »Ich, äh …«
    »Hab sie vorhin getroffen, als ich die hier gekauft hab.« Julian wedelte mit der Plastiktüte. »Soft-Cell. Sam hat mich Schwuchtel genannt.« Er riss herausfordernd die Augenbrauen hoch.
    »Nein.« Alex merkte, wie er rot wurde. »Echt? Ich weiß echt nicht, warum die so was sagt. Ich find das nämlich überhaupt nicht, Julian …«
    Julian hob die Hand, damit Alex sich nicht um Kopf und Kragen redete. »Gegen dich hab ich echt nichts«, sagte er. »Aber die … Ich weiß echt nicht, was du mit der willst. Die ist doch ’n Psycho.«
    Er schüttelte den Kopf und entfernte sich über den Marktplatz. Alex starrte ihm mit offenem Mund hinterher. Dann drehte er sich wieder um und suchte mit hastigem Blick nach dem Mädchen, das immer noch nicht da war. Die Uhr stand auf halb fünf.
    Er rannte zur Bushaltestelle.
    *
    Rivett parkte abseits der Lichter zwischen dunklen Feuertreppen, Wäscheluken, Lieferanteneingängen und Müllcontainern. Ganz anders als die freundliche, vanillefarbene Fassade, die die Touristen anlächelte, wirkte die Rückseite des Albert Hotel wie eine düstere Festung, aus deren schmalen Milchglasfenstern nur ein Minimum an Licht drang und deren Lüftungsschlitze heiße, verbrauchte Luft in eine Atmosphäre rülpsten, die sowieso schon stickig vom Aroma verrottender Vier-Sterne-Menüs war.
    Gina sah sich das Ganze durch die Windschutzscheibe an wie ein Verurteilter den Galgen. Es war nicht besser geworden, seit sie von den Bullen nach Hause gekommen war. Vor ihrer Tür hatte ein ergrauter Kerl Anfang vierzig namens Wolf gewartet. Schon zu seinen besten Zeiten war Wolf ein unangenehmer Zeitgenosse gewesen. Er hatte stumpfe graue Augen und eine Reihe haariger Leberflecken im Gesicht, die ihn eher nach Warzenschwein als nach Wolf aussehen ließen. Er war älter als die anderen und äußerst

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