Opfer
saßen an einem Schreibtisch in ihrem Büro einander gegenüber. Nora reichte ihm das obere der beiden dicken Bücher, die sie vor sich hatte.
»Das hier ist das Schülerregister«, sagte Mrs Linguard und zeigte auf einen auf halber Höhe mit blauer Tinte notierten Namen. »John Brendan Kenyon, geboren am 4. 2. 68, kam am 8. September 1982 von der Greenacres Secondary Modern zu uns. In dem Jahr wurden wir eine Gesamtschule.«
Sean starrte die Seite an, den Beweis von Nojs Existenz zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
»Und« – sie schlug eine Seite auf, die sie mit einem Post-it markiert hatte – »am 27. Juli 1984 verließ er uns wieder. Das ist die gute Nachricht.«
»Und die schlechte?« Sean hob wieder den Blick und sah sie an.
»Wenn es jemals Probleme mit dem Kind gegeben hätte, eine Lernbehinderung oder eine Intervention des Jugendamts, würde ich mich an den Namen erinnern und den Jungen vor Augen haben. Die entsprechenden Akten werden nur bis dreiJahre nach dem Abgang des Schülers aufbewahrt, seine ist also schon lange weg. Stattdessen habe ich aber mal hier nachgeschaut.« Sie tippte auf das andere dicke Buch vor sich. »Das Logbuch der Schule. Da trägt der Direktor alle wichtigen Ereignisse ein, die im Laufe des Schuljahres passieren.«
Sie sah ihn verheißungsvoll an, und ihre blauen Augen wirkten hinter der Brille wie Glasperlen.
»Und, wie Sie wissen, war der Juni 1984 ein besonders ereignisreicher Monat für unsere Schule. Falls Ihr Mr Kenyon tatsächlich in den Fall Woodrow verwickelt gewesen sein sollte, hätte Mr Hill das sicher vermerkt. Aber ich habe das Buch vom Tatzeitpunkt bis zurück zu seinem ersten Tag bei uns durchgearbeitet, und er wurde nicht ein einziges Mal erwähnt.«
»Mr Hill war damals der Direktor?«, fragte Sean.
»Genau.« Sie nickte. »Er war im Krieg gewesen, müssen Sie wissen. In Dünkirchen. Er war fast so lange an der Schule wie ich jetzt, hat den Übergang von der Grammar School zur Comprehensive mitgemacht und dann« – sie verzog das Gesicht – »diese schrecklichen Tage. So einen wie ihn sehen wir so bald nicht wieder.«
»Die Zeit nach der Tat muss hart für Sie gewesen sein«, sagte Sean.
»Das kann ich Ihnen sagen«, erwiderte Mrs Linguard. »Die haben uns wochenlang am Tor belagert. Zeitungen, Fernsehen, Radio. Die haben nach Storys gesucht, nach Schuldigen. Wollten die Gemüter in Wallung bringen.« Sie rollte die Augen. »Sie wissen ja, was die Leute sich erzählen. Und wenn Ihnen dann auch noch einer zuhört und sie weiter antreibt.«
»So langsam bekomme ich eine Vorstellung von der Lage«, sagte Sean. »Einigen Schülern wurde nahegelegt, von der Schule zu gehen, oder?«
»Ja«, sie nickte. »Aber Ihr Mr Kenyon gehörte nicht dazu.« Sie runzelte die Stirn. »Hören Sie, man soll sich bei so etwas ja eigentlich nicht auf sein Gedächtnis verlassen, aber diese Vorfälle haben sich bei mir fest eingebrannt, und ich wüsste nicht,dass er mit der Sache etwas zu tun gehabt hätte. Wenn ich ganz ehrlich bin, erinnere ich mich überhaupt nicht an den Jungen.«
Damals hätten Sie mich überhaupt nicht bemerkt , hörte Sean Nojs Stimme. Denn genau so wollte ich es.
Sean nickte auf das Logbuch. »Tja, das alles ist jetzt zwanzig Jahre her. Darf ich Sie fragen, was Ihre stärksten Erinnerungen an diese Zeit sind?«
Mrs Linguard hielt inne und verschränkte die Hände unterm Kinn. »Die Schicksalsklasse 5P«, erwiderte sie. »Der Erste, der wegen der Tat des Mädchens gehen musste, war kein Mitschüler, sondern ein Lehrer.«
»Tatsächlich? Davon habe ich noch gar nichts gehört«, sagte Sean.
»Philip Pearson«, setzte Mrs Linguard fort. »Er war eine Zeitlang Corrine Woodrows Klassenlehrer, bevor sie in die Förderklasse kam. Er war ein brillanter Chemiker, ein großer Denker. Und er hatte die Schüler im Griff wie kaum ein anderer. Und manchmal konnte er Problemschüler dazu bringen, sich zu öffnen. Die, die Schlimmes durchgemacht hatten. Das hat er auch bei der kleinen Woodrow versucht, und deswegen hat er Probleme bekommen.«
Schatten legten sich über ihr Gesicht, die Stirnfalten wurden tiefer und die Mundwinkel verzogen sich weiter nach unten. »Er hat den Fehler begangen, mit jemandem von der Zeitung zu reden. Jemandem, dem er fälschlicherweise vertraute. Er glaubte, er könnte die Lage beruhigen, wenn er die Hintergründe erklärte. Aber natürlich haben die ihm bloß die Worte im Mund umgedreht. Sie wissen ja, wie die sind.«
»Nur
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