Opferlämmer
Toilette aufzusuchen. Er bat den Mann vom Nachbarstand, die Nische der Algonquin im Auge zu behalten, und bog in einen fast menschenleeren Gang ein. Ein Vorteil des billigeren Bereichs mit den kleineren Ständen war, dass man die Toiletten nahezu für sich allein hatte. Sommers betrat einen Korridor, dessen modischer Stahlboden nicht glatt war, sondern ein Raster aus kleinen Höckern aufwies, wohl um den Boden einer Raumstation oder Rakete zu simulieren.
Sechs Meter vor der Tür klingelte sein Telefon.
Die Nummer im Display sagte ihm nichts – sie gehörte zu
einem Anschluss im New Yorker Festnetz. Sommers überlegte kurz und drückte den Anrufer weg.
Dann ging er weiter und bemerkte den glänzenden Türgriff aus Kupfer. Die haben hier wirklich an nichts gespart, dachte er. Kein Wunder, dass die Standmiete so verdammt hoch ist.
… Zweiundsiebzig
»Bitte«, murmelte Sachs, die über den Lautsprecher des Telefons gebeugt stand. »Charlie, heben Sie ab! Bitte!«
Sie hatte es gerade schon mal versucht, war aber nach dem ersten Klingeln sofort auf Sommers’ Mailbox gelandet.
Dies war der zweite Versuch.
»Na los!«, sagte auch Rhyme.
Es klingelte zweimal … dreimal …
Dann endlich ein Klicken. »Hallo?«
»Charlie, hier ist Amelia Sachs.«
»Ach, waren Sie das eben? Ich bin unterwegs zur …«
»Charlie«, unterbrach sie ihn, »Sie sind in Gefahr.«
»Was?«
»Wo befinden Sie sich?«
»Im Kongresszentrum … Was soll das heißen, in Gefahr?«
»Ist in Ihrer Nähe irgendwas aus Metall, mit dem sich ein Lichtbogen hervorrufen ließe oder das man unter Strom setzen könnte?«
Er lachte abrupt auf. »Ich stehe auf einem Metallboden. Und ich wollte gerade eine Toilettentür mit Metallgriff öffnen.« Dann wich die Belustigung aus seiner Stimme. »Wollen Sie andeuten, es könnte sich um eine Falle handeln?«
»Das ist möglich. Verlassen Sie sofort den Metallboden.«
»Ich verstehe nicht.«
»Es gibt einen neuen Erpresserbrief mit einer weiteren Frist. Achtzehn Uhr dreißig. Aber wir glauben, dass die Anschläge auf
das Hotel und den Aufzug in Wirklichkeit gar nichts mit Drohungen oder Forderungen zu tun hatten, sondern verdecken sollten, dass ganz bestimmte Leute ermordet wurden. Und Sie könnten eine dieser Zielpersonen sein.«
»Ich? Warum?«
»Suchen Sie sich zuerst einen sicheren Ort.«
»Ich gehe zurück in die Halle. Der Boden dort ist aus Beton. Moment.« Es vergingen ein paar Sekunden. »Okay. Wissen Sie, mir war vorhin so, als würde mich jemand beobachten. Aber wie Galt hat er nicht ausgesehen.«
»Charlie, hier Lincoln«, meldete sich Rhyme. »Wir glauben, dass Ray Galt nur als Sündenbock dient. Vermutlich ist er längst tot. «
»Jemand anders steckt hinter den Anschlägen?«
»Ja.«
»Wer? «
»Andi Jessen. Der Mann, den Sie gesehen haben, könnte ihr Bruder Randall gewesen sein. Die Spuren legen die Vermutung nahe, dass die beiden zusammenarbeiten.«
»Was? Das ist doch verrückt. Und weshalb sollte ich in Gefahr sein?«
»Einige der Opfer der bisherigen Anschläge hatten mit erneuerbaren Energien zu tun«, erläuterte Sachs. »Genau wie Sie. Wir glauben, Andi Jessen könnte alternative Stromanbieter bestochen haben, ihre Kapazität zu verringern, damit der Strom der Algonquin unvermindert nachgefragt wird.«
Am anderen Ende der Leitung herrschte kurz Stille. »Nun, es stimmt«, sagte Sommers dann. »Eines meiner Projekte hat mit der Konsolidierung regionaler Netze zu tun, um deren Unabhängigkeit zu steigern und ihnen zu ermöglichen, Strom an die großen Verbundnetze wie das der Algonquin zu liefern. Ich schätze, Andi könnte das als Problem auffassen.«
»Sind Sie in letzter Zeit mal in Scottsdale gewesen?«
»Ja, ich arbeite unter anderem dort in der Nähe an einigen Solarprojekten. In Kalifornien geht es meistens um Windparks und Erdwärme, in Arizona um Sonnenenergie.«
»Sie haben so was erwähnt, als wir uns bei der Algonquin begegnet sind«, sagte Sachs. »Wieso hat Andi Jessen wohl ausgerechnet Sie gebeten, mir bei den Ermittlungen zu helfen?«
Er hielt inne. »Sie haben recht. Sie hätte ein Dutzend anderer Leute bitten können.«
»Ich glaube, sie hat Ihnen eine Falle gestellt.«
Da keuchte er plötzlich auf. »O Gott.«
»Was ist?«, fragte Rhyme.
»Es geht womöglich nicht nur um mich. Denken Sie doch mal nach: Jeder hier auf dem Kongress stellt für die Algonquin eine Bedrohung dar. Die ganze Veranstaltung dreht sich um alternative Energien,
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