Opferlämmer
Selbstversorgung, Dezentralisierung … Andi könnte jeden einzelnen Aussteller hier als Gefahr auffassen, falls sie tatsächlich so versessen darauf ist, die Algonquin zum größten Energieanbieter Nordamerikas zu machen.«
»Gibt es bei der Algonquin jemanden, dem wir trauen können ? Jemanden, der dort bei Ihnen den Strom abstellen könnte, ohne Andi Jessen Bescheid zu geben?«
»Der Strom hier kommt nicht von der Algonquin. Genau wie manche der U-Bahn-Linien produziert das Kongresszentrum die benötigte Energie in Eigenregie. Das Kraftwerk ist gleich nebenan. Sollen wir eine Evakuierung in die Wege leiten?«
»Müssten die Leute dabei einen Metallboden überqueren?«
»Ja, die meisten schon. Die vordere Lobby und die Laderampen sind komplett aus Stahl. Ohne Anstrich. Blanker Stahl. Und können Sie sich vorstellen, wie viel Strom im Augenblick hier verbraucht wird? An einem Tag wie heute dürften fast zwanzig Millionen Watt zusammenkommen. Hören Sie, ich kann nach unten gehen und die Versorgungsleitung suchen. Vielleicht gelingt es mir, die Trenner auszulösen. Ich könnte …«
»Nein, wir müssen erst herausfinden, was genau die Täter vorhaben und wie sie es bewerkstelligen wollen. Wir melden uns, sobald wir mehr wissen. Rühren Sie sich nicht vom Fleck!«
… Dreiundsiebzig
Charlie Sommers schwitzte. Hektisch ließ er den Blick über die Zehntausende von Besuchern der New Energy Expo schweifen. Manche hofften, sie würden ein Vermögen verdienen können, andere wollten dem Planeten helfen oder ihn gar retten. Wiederum andere versprachen sich einfach nur ein paar unterhaltsame Stunden.
Einige waren noch jung – halbwüchsige Schüler – und würden, genau wie vor Jahren er selbst, nach dem Besuch der Ausstellung andere Schwerpunktfächer wählen. Mehr Naturwissenschaften, weniger Fremdsprachen und Geschichte. Um später die Edisons ihrer Generationen zu werden.
Sie alle waren gefährdet.
Er solle sich nicht vom Fleck rühren, hatte die Polizei gesagt.
Die Menschen schoben sich dicht gedrängt durch die Gänge und trugen bunte Tüten mit sich herum, in denen das Werbematerial der Aussteller steckte und auf denen die großen Firmenlogos prangten: Volt Storage Technologies, Next Generation Batteries, Geothermal Innovations.
Rühren Sie sich nicht vom Fleck …
Nur dass sein Verstand sich an einem Ort befand, den Sommers’ Frau »Charlies Denkfabrik« nannte, und dort unermüdlich arbeitete – wie ein Dynamo oder ein Schwungrad. Mit zehntausend Umdrehungen pro Minute. Und momentan beschäftigte er sich mit der Frage des Stromverbrauchs hier im Kongresszentrum. Zwanzig Megawatt.
Zwanzig Millionen Watt.
Watt ist gleich Volt mal Ampere …
Falls man diese Menge in die metallenen Teile des Gebäudes leitete, konnten Tausende zu Tode kommen. Durch Lichtbögen oder simple Erdfehler würde der gewaltige Strom die Leiber durchfluten, ihnen das Leben nehmen und sie in schwelende Haufen aus Fleisch, Kleidung und Haar verwandeln.
Rühren Sie sich nicht vom Fleck …
Tja, das konnte er nicht.
Und wie jeder Erfinder überlegte Sommers sich, wie wohl die praktische Umsetzung aussehen mochte. Randall Jessen und Andi würden das Kraftwerk irgendwie abgesichert haben. Sie konnten nicht riskieren, dass die Polizei das Wartungspersonal verständigte und den Strom einfach abstellen ließ. Doch es musste eine Hauptleitung vom Kraftwerk in dieses Gebäude führen. Vermutlich stand sie unter 138000 Volt Hochspannung. Und diese Leitung musste man anzapfen, um die Böden, Treppen, Türknäufe oder vielleicht wieder die Aufzüge unter Strom zu setzen.
Die Besucher hier konnten dem Strom nicht ausweichen.
Sie konnten sich nicht vor ihm schützen.
Also musste Sommers ihm den Kopf abschlagen.
Sich nicht vom Fleck zu rühren kam nicht in Frage.
Falls er die Hauptleitung fand, bevor Randall Jessen sie anzapfte, konnte Sommers sie kurzschließen. Er würde sie einfach direkt mit einer Rückleitung verbinden, was in einem Lichtbogen resultieren dürfte, der so stark war wie der bei dem Anschlag auf die Bushaltestelle. Die Entladung würde die Trenner im Kraftwerk des Kongresszentrums auslösen und die Gefahr beseitigen. Zwar würde automatisch das System der Notbeleuchtung anspringen, aber das lief mit sehr niedriger Spannung und wurde wahrscheinlich von Zwölf-Volt-Blei-Kalzium-Akkus gespeist. Das Risiko eines Stromschlags bestand damit nicht
mehr. Ein paar Leute würden in den Aufzügen stecken bleiben, und es
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