Opferlämmer
gute Spuren. Fasern, Haare, vielleicht DNS. Warum sonst würde er sie zerstören wollen?«
Rhyme zögerte. Er wusste, dass sie hinsichtlich der Spuren recht hatte, aber er wollte nicht, dass sie vom nächsten Lichtbogen erwischt werden würde.
Sie watete näher an die Luke heran. Doch dadurch verursachte sie eine kleine Welle, die beinahe über die Batterie geschwappt wäre.
Sie erstarrte.
»Sachs!«
»Psst.« Sie musste sich konzentrieren. Indem sie sich immer nur wenige Zentimeter am Stück bewegte, gelang es ihr, die Wellen flach genug zu halten. Doch ihr blieben allenfalls noch ein oder zwei Minuten, dann würde das Wasser von allein auf die Pole treffen.
Sie nahm einen Schlitzschraubendreher und fing an, den Rahmen der Luke abzuschrauben.
Das trübe Wasser stand nun dicht unterhalb der Oberkante der Batterie. Immer wenn Sachs sich vorbeugte, um mehr Kraft auf die von klebriger Farbe überzogenen Schrauben auszuüben, löste sie eine kleine Welle aus, die erste Spritzer oben auf die Batterie beförderte, bevor sie wieder zurückwich.
Die Leistung der Batterie war mit Sicherheit geringer als die der Hunderttausend-Volt-Leitung, die draußen den Lichtbogen bewirkt hatte, aber der Täter benötigte hier vermutlich gar nicht so viel Zerstörungskraft. Die Entladung musste lediglich ausreichen, um die Luke und alle anhaftenden Spuren zu vernichten. Amelia wollte ihr unbedingt zuvorkommen.
»Sachs?«, flüsterte Rhyme.
Sie ignorierte ihn. Und sie ignorierte auch die Bilder der kauterisierten Löcher im weichen Fleisch des Opfers, der geschmolzenen Tränen …
Endlich löste sich auch die letzte Schraube. Alte Farbe hielt den Rahmen dennoch an Ort und Stelle. Sachs rammte die Klinge des Schraubendrehers hinter die Kante und hieb mit der flachen Hand auf das andere Ende des Werkzeugs. Mit einem Knacken kippte ihr das Metall entgegen. Die Luke und der Rahmen waren schwerer als gedacht, und Amelia hätte sie beinahe fallen gelassen. Doch dann bekam sie die Last in den Griff, ohne einen Tsunami zu verursachen.
Hinter der Öffnung befand sich ein enger Versorgungsschacht,
durch den der Täter in das Umspannwerk gelangt sein musste.
»Rein mit dir«, drängte Rhyme. »Dort bist du geschützt. Schnell!«
»Ich versuch’s ja.«
Nur dass die Luke nicht durch die Öffnung passte, auch nicht diagonal, da der Rahmen noch daran hing. »Es geht nicht«, sagte sie und beschrieb das Problem. »Ich steige die Treppe hinauf. «
»Nein, Sachs. Lass die Luke einfach da, und kriech in den Schacht.«
»Das ist ein zu gutes Beweisstück.«
Sie hielt die Luke fest umklammert und watete auf die Stufen zu, wobei sie sich immer wieder zu der Batterie umwandte. Es ging nur quälend langsam voran. Und jeder Schritt löste eine neue Welle aus.
»Wie weit bist du, Sachs?«
»Fast da«, flüsterte sie, als hätte eine zu laute Stimme die Fluten noch weiter aufwühlen können.
Sie befand sich auf halbem Weg zur Treppe, als das Wasser plötzlich über die Kante der Batterie stieg und erst einen der Pole umspülte und dann den anderen.
Kein Lichtbogen.
Gar nichts.
Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie atmete tief durch.
»Falscher Alarm, Rhyme. Wir hätten uns gar keine Sorgen …«
Ein weißer Lichtblitz blendete sie, begleitet von einem gewaltigen Donnerhall. Amelia Sachs wurde nach hinten geschleudert. Das Wasser schlug über ihrem Kopf zusammen.
… Neun
»Thom!«
Der Betreuer kam ins Labor gelaufen und musterte Rhyme eingehend. »Was ist los? Wie fühlst du dich?«
»Es geht nicht um mich «, herrschte sein Chef ihn mit großen Augen an und nickte in Richtung des leeren Computermonitors. »Amelia. Sie war an einem Tatort. Eine Batterie … ein weiterer Lichtbogen. Die Audio- und Videoübertragung ist ausgefallen. Ruf Pulaski an! Oder sonst jemanden!«
Thom Reston runzelte besorgt die Stirn, blieb aber gelassen. Er arbeitete schon seit langer Zeit in diesem Beruf; ganz gleich, um welche Krise es sich auch handeln mochte – er würde besonnen alles Notwendige veranlassen. Ruhig nahm er den Hörer eines der Telefone ab, zog eine Nummernliste zurate und drückte eine Kurzwahltaste.
Panik sammelt sich nicht in den Eingeweiden und fährt auch nicht das Rückgrat entlang. Panik packt dich an Leib und Seele und schüttelt dich durch, auch wenn du eigentlich kein Gefühl im Körper hast. Rhyme war wütend auf sich selbst. Er hätte Sachs sofort nach draußen schicken müssen, als sie die Batterie und das ansteigende Wasser
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