Opferlämmer
falls du geglaubt hattest, dieser Haufen aus Stahl, Kunststoff, Kupfer und Aluminium sorge sich um dich, dann wäre das ein Irrtum gewesen.
Amie, ein Auto hat nur die Seele, die du ihm verleihst. Nicht mehr und nicht weniger. Vergiss das nie.
Also, ja, der Verlust ihres Camaro tat ihr leid. Aber sie fuhr nun einen anderen guten Wagen, der zu ihr passte. Und auf dessen Lenkradnabe das Emblem des Chevrolet prangte. Pammy hatte es beinahe ehrfürchtig aus den Überresten des Camaro gerettet und zu Sachs gebracht.
Amelia stieg nun vor einer Kreuzung auf die Bremse, schaltete blitzschnell herunter, um die Drehzahl zu halten, sah nach links, sah nach rechts, gab Gas, kuppelte aus und schaltete wieder hoch. Achtzig Kilometer pro Stunde. Fünfundneunzig. Hundertzehn. Die Signalleuchte auf dem Armaturenbrett, die Sachs kaum wahrnahm, blinkte so schnell wie ein pochendes Herz.
Sie befand sich gegenwärtig auf dem West Side Highway, der
ehrwürdigen Route 9A, die vor einigen Meilen noch Henry Hudson Parkway geheißen hatte. Sie fuhr nach Süden, vorbei an vertrauten Anblicken: Heliport, Hudson River Park, Jachthafen und die verstopfte Einfahrt in den Holland Tunnel. Dann tauchten zu ihrer Rechten große Bankgebäude auf. Sie raste an dem riesigen Baugelände vorbei, auf dem einst das World Trade Center gestanden hatte. Trotz aller Hektik war ihr eines bewusst: Wenn jemals eine Lücke einen Schatten werfen konnte, dann hier.
Ein kontrolliertes Schleudern lenkte den Cobra auf den Battery Place und nach Osten in das enge Straßengewirr von Lower Manhattan.
Amelia hatte den Ohrhörer ihres Telefons eingesteckt. Ein Knistern störte sie in ihrer Konzentration, als sie gerade zwei Taxis umkurvte und dabei die entsetzte Miene unter dem Turban des Sikh bemerkte.
»Sachs!«
»Was ist, Rhyme?«
»Wo bist du?«
»Gleich da.«
Sie verlor Gummi auf allen vier Reifen, als sie im Winkel von neunzig Grad abbog und den Ford zwischen dem Rinnstein und einem anderen Auto einfädelte, dabei die eine Anzeige nie unter 70, die andere nie unter 5000.
Sie wollte zur Whitehall Street. Nähe Stone Street. Rhyme hatte mit Charlie Sommers gesprochen und war dabei zu einer unerwarteten Erkenntnis gelangt: Der Manager für Sonderprojekte hatte spekuliert, Galt könne etwas anderes als einen Lichtbogen geplant haben; Sommers vermutete eher, dass der Mann einfach irgendeinen öffentlich zugänglichen Bereich unter eine ausreichend hohe Spannung setzen würde, um Passanten zu töten. Er würde die Leute irgendwie zu einem Teil des Stromkreises machen. Das sei einfacher und viel effizienter,
hatte Sommers erläutert, und man brauche auch längst nicht so hohe Voltzahlen.
Rhyme hatte gefolgert, dass der Brandanschlag auf das Umspannwerk in Harlem in Wahrheit ein Ablenkungsmanöver gewesen war und Galts wirkliches Ziel möglichst weit davon entfernt lag, also irgendwo in Downtown. Daraufhin hatte Rhyme sich die Liste der möglichen Quellen der Vulkanasche vorgenommen und tatsächlich etwas gefunden: das Amsterdam College, eine öffentliche Fachhochschule, in der es derzeit eine Ausstellung über Vulkane gab.
»Ich bin da, Rhyme.« Sachs brachte den Torino vor dem Schulgebäude zum Stehen und hinterließ dabei auf dem grauen Asphalt zwei schwarze Bremsstreifen. Noch bevor der Qualm des verschmorten Gummis sich verziehen konnte, hatte Amelia den Wagen bereits verlassen. Der Geruch erinnerte sie unheilvoll an das Umspannwerk MH-10 … und obwohl sie sich dagegen sträubte, sah sie abermals die schwarz-roten Punkte im Leichnam von Luis Martin vor sich. Als sie auf den Eingang zulief, war sie ausnahmsweise dankbar für den Schmerz, der durch ihre arthritischen Knie schoss, denn er lenkte sie zumindest ein wenig ab.
»Ich sehe die Schule vor mir, Rhyme. Sie ist groß. Größer als erwartet.« Es ging hier nicht um eine Tatortuntersuchung; daher hatte Sachs auf eine Videoverbindung verzichtet.
»Noch achtzehn Minuten bis zum Ende der Frist.«
Sie musterte den sechsgeschossigen Bau, aus dem hastig und mit verunsicherten Mienen Studenten, Dozenten und Angestellte strömten. Tucker McDaniel und Lon Sellitto hatten beschlossen, alle zu evakuieren. Die Leute hielten Handtaschen, Laptops und Bücher umklammert und entfernten sich von dem Gebäude. Fast jeder warf dabei einen oder mehrere Blicke nach oben.
Der elfte September war immer noch präsent.
Ein anderer Wagen traf ein, und eine Frau in einem dunklen Kostüm stieg aus. Es war Nancy Simpson, eine
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