Opfermal
hier sitzen sehen könnte. Aber Marla war sich nicht sicher, wie die Dinge da unten beim Teufel lagen. Sie glaubte, dass selbst er nicht die Macht hatte, in das Haus Gottes zu blicken. Und der Umstand, dass Jose vielleicht nicht sah, was sie so trieb, machte sie traurig. Denn auch wenn ihre Eltern ihr versichert hatten, Jose sei im Himmel, wusste Marla Rodriguez mit Bestimmtheit, dass ihr großer Bruder in der Hölle gelandet war.
» No te preocupes, Jose «, flüsterte sie in Richtung Boden. »Ich kümmere mich um die Sache.«
Marla kam sich dumm vor, weil es ihr nicht selbst eingefallen war, sie war schuldbewusst und traurig, weil sie so lange gebraucht hatte, um alles in Ordnung zu bringen. Sicher, es war ihm wahrscheinlich sehr schwergefallen, von tief in der Hölle in ihre Träume zu gelangen, besonders da im Augenblick nicht viel Platz in ihnen war, wegen der vielen Sorgen, die sie hatte: Papa und Mama, die immer weinten, der Umzug ans andere Ende von Raleigh, die neue Schule, der neue Katechismus-Unterricht, die neue Kirche – von dem Platz, der dafür verbraucht wurde, dass sie ihn so vermisste, gar nicht zu reden! O ja, manchmal kam es Marla vor, als sei ihr Kopf noch überfüllter als die Wohnung, in die sie gezogen waren: Er musste viel mehr Sorgen beherbergen als die Dreizimmerwohnung ihres Onkels Menschen. Neun insgesamt – Leute, nicht Sorgen – oder sogar zehn, wenn man Paco, die Katze ihrer Cousins mitzählte.
Marla mochte ihre Cousins nicht sehr, und es gefiel ihr überhaupt nicht, dass sie zusammen mit ihrem Bruder im selben Zimmer wie Mama und Papa auf dem Boden schlafen musste. Aber Marla musste zugeben, dass es ihr gefiel, mit Paco zusammenzuleben, der immer auf ihrem Kissen schlief, obwohl Diego direkt neben ihr lag. Marla sah Paco an, dass er Diego nicht sehr mochte; und obwohl Marla Diego ebenfalls nicht sehr mochte, hatte sie dennoch Gewissensbisse, weil sie sich manchmal wünschte, er wäre anstelle von Jose umgebracht worden.
Ich muss daran denken, Pfarrer Banigas das ebenfalls zu sagen, dachte Marla. Aber ich wette, falls Pfarrer Banigas Diego je kennenlernte, würde er ihn auch nicht mögen.
Während Jose alle gemocht hatten, erschien es Marla, als sei der einzige Mensch, der Diego mochte, Hector, der älteste ihrer drei Cousins. Hector war dreizehn, zwei Jahre jünger als Diego, und Marla merkte ihm an, dass er Diego für el mejor hielt, weil er schneller Freestyle rappen konnte als irgendwer sonst. Ihre beiden anderen Cousins waren einfach kleine Jungs, zu jung, als dass ihnen Diegos Flow etwas bedeutet hätte, aber selbst Marla musste zugeben, dass Diego beim Rappen oft ganz schön cool war – aber das änderte nichts daran, dass sie ihn nicht mochte! Nein, ihr großer Bruder Jose hatte sie nie mit Schimpfnamen belegt oder in den Arm gezwickt, wenn er den iPod benutzen wollte, den sie sich in der alten Wohnung zu dritt geteilt hatten.
Nachdem Jose gestorben und sobald ihre Familie zu Marlas Cousins gezogen war, hatte ihr Vater ihr jedoch ihren eigenen iPod gekauft und Diego den alten gelassen. Damit hatte sie nicht gerechnet, obwohl ihr Vater noch einen zweiten Job zu seiner Hausmeisterarbeit in der Crabtree Mall angenommen hatte. Marla hatte ihn und ihre Mutter spätabends über den iPod streiten hören, aber wenigstens weinte Papa nicht mehr, bevor er einschlief. Marla konnte ihrem Papa allerdings nie sagen, dass der iPod sie nicht vom Weinen abhielt und dass sie ihre Cousins und die neue Wohnung deshalb auch nicht lieber mochte. Aber wenigstens ging es draußen ruhiger zu, das konnte sie einräumen: keine Autos, die den Parkplatz rauf und runter rasten, kein Klirren von Flaschen und keine Banden von Pandilleros , die sich spät nachts gegenseitig anschrien. Und am besten war, dass es keine Schüsse gab, die sie aus ihren Träumen von Jose weckten.
»Du kannst Gott um einen iPod bitten, wenn du in den Himmel kommst«, flüsterte Marla in Richtung Boden, und der Junge neben ihr stieß sie mit dem Ellbogen an.
» Silenzio, chalada «, sagte er. »Sonst kriegen wir Ärger mit Schwester Esperanza.«
Marla stieß zurück, und der Junge kreischte auf, was Schwester Esperanza veranlasste, von ihrem Platz auf der andern Seite des Gangs aufzustehen. Alle Kinder erstarrten, aber als Schwester Esperanza ohne ein Wort an Marla vorbeiging, kam ihr plötzlich in den Sinn, dass Jose vielleicht deshalb in ihren Träumen endlich zu ihr sprechen konnte, weil es bei ihren Cousins jetzt
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