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Opfermal

Opfermal

Titel: Opfermal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Funaro
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dann senkrecht gestellt und im Boden verankert. So gestützt, stirbt die gepfählte Person einen qualvollen Tod, der von wenigen Sekunden bis zu drei Tagen dauern kann. Manchmal wird der Pfahl nach erst teilweiser Pfählung senkrecht gestellt, worauf die Schwerkraft und das Strampeln des Opfers selbst den Prozess vollenden.
    Markham schloss die Augen. Seine Eingeweide zogen sich zusammen, als er daran dachte, was Randall Donovan erlitten haben musste.
    »Aber worauf sollten sie blicken, Vlad?«, fragte Markham laut. »Der kleine Querbalken, damit der Körper nicht abrutscht; der an den Stock gebundene Kopf. Das Ganze könnte mehr dem gedient haben, was sie sehen sollten, als dem, was wir sehen sollen.«
    Aber die Blickwinkel , antwortete Alan Gates in seinem Kopf. Die verschiedenen Richtungen. Sie haben nicht auf den Halbmond geschaut.
    Da liegt der Hase im Pfeffer.
    Markham las weiter.
    Zu allen Zeiten wurde Pfählung als schnelle und wirksame Hinrichtungsmethode im Krieg eingesetzt, wie in den begleitenden neuassyrischen Reliefs gezeigt, auf denen die Pfählung von Judäern dargestellt wird. Der altgriechische Geschichtsschreiber Herodot berichtet von der Pfählung Tausender Babylonier durch den Perserkönig Darius. Die alten Römer pfählten nicht nur ihre Feinde, sondern in extremen Fällen von Feigheit und Verrat auch ihre eigenen Soldaten.
    Wenngleich in ganz Europa und Asien während des gesamten Mittelalters angewandt – und in manchen Gebieten wie der ottomanischen Türkei bis weit ins 19. Jahrhundert –, gilt als das vielleicht am meisten berüchtigte Beispiel institutioneller Pfählung die Herrschaft Vlads III ., Prinz der Walachei, der als Vlad der Pfähler bekannt wurde. Historiker schätzen, dass Vlad III . während seines Lebens nicht nur Tausende Feinde des Landes, hauptsächlich ottomanische Türken, pfählen ließ, sondern auch Hunderte seiner Landsleute, darunter rivalisierende Angehörige der walachischen Aristokratie, unverheiratete Mädchen, die ihre Jungfräulichkeit verloren hatten, Diebe – manche davon noch Kinder –, Ehebrecherinnen und Homosexuelle.
    Dann geht es vielleicht doch nicht nur um die Muslime, dachte Markham. Vielleicht erstreckt Vlad sein Repertoire einmal mehr auf die eigenen Leute. Der Anwalt könnte als Dieb betrachtet werden. Schmutzig, ehrlos. Könnte auch sein, dass er jemanden muslimischen Glaubens verteidigt hat – das muss ich noch überprüfen. Und Rodriguez und Guerrera? Vielleicht dachte Vlad, sie seien Bandenmitglieder. Dreckige Drogendealer, die er reinwaschen musste. Vielleicht wollte er eine Botschaft schicken. Eine Moralbotschaft.
    Markham sah auf die Uhr und registrierte undeutlich, dass er in zwanzig Minuten in Raleigh eintreffen würde. Sein Kopf fühlte sich schwer an, sein Verstand schwamm in einer Suppe aus Daten, während die Verbindung zu Vlad dem Pfähler deutlicher wurde.
    Aber etwas stimmte nicht. Er fühlte es.
    Es ist dieser kleine Punkt mit dem Rumänisch, nicht wahr?, fragte Gates in seinem Kopf. Warum hat Vlad seine Botschaft nicht auf Rumänisch hinterlassen? Oder zumindest auf Englisch. Wäre das nicht sinnvoll, wenn er »sein Repertoire auf die eigenen Leute erstrecken« wollte?
    Vielleicht glaubte er, wir würden die Botschaft trotzdem verstehen. Was wir schließlich ja auch taten.
    Gates verstummte, und Markham wandte sich wieder den U V -Aufnahmen von Donovans Oberkörper zu – den gleichmäßig gesetzten, sorgfältig gezeichneten rosa Buchstaben.
    »Du hattest ihn eine Weile festgebunden«, flüsterte er. »Aber wie hast du ihn dazu gebracht, so still zu sitzen? War Donovan tot oder bewusstlos, als du auf ihm geschrieben hast?«
    Ich bin zurückgekehrt, meldete sich eine Stimme in seinem Kopf. Ich bin zurückgekehrt. Ich bin zurückgekehrt. Ich bin zurückgekehrt.
    Markham schloss die Augen und ließ sich mit einem unguten Gefühl in das Dröhnen der Turboprop-Maschinen fallen – und das leise Summen in seinem Kopf, das ihm verriet, dass er nicht wusste, wo er anfangen sollte.
    5
    Marla Rodriguez vermisste ihren großen Bruder noch immer sehr. Es war zwei Monate her, seit die Polizei ihn und den anderen Mann auf der Wiese neben dem Friedhof gefunden hatte. Und während sie darauf wartete, Pfarrer Banigas zu sprechen, fragte sich die hübsche Elfjährige, ob Jose durch den Kirchenboden zu ihr heraufsehen konnte.
    Natürlich wusste sie, dass ihr Bruder, wäre er im Himmel, sie ganz bestimmt in ihrem leuchtend gelben Sweatshirt

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