Opfermal
Diego, hat er angefangen zu weinen und mir alles erzählt. Er hat mir auch von den Transvestiten-Shows erzählt, und ich musste auf Mamas Bibel schwören, dass ich es nie jemandem sage.«
»Aber mein Kind, du hättest es der Polizei sagen sollen, nachdem er getötet worden war.«
»Ich konnte es nicht, Hochwürden Banigas. Papa und Mama würden mich umbringen, wenn sie wüssten, dass ich wusste, dass Jose homosexuell war und es ihnen nicht gesagt habe. Und sie sind beide so fertig, weil er gestorben ist, es würde sie selbst umbringen, ich weiß es. Warum müssen sie oder die Polizei es überhaupt wissen? Sie sagten, sie hielten die Pandilleros für die Täter. Und auch wenn sie jetzt sagen, sie wüssten es nicht, glauben alle Leute immer noch, dass sie es waren. Ich kann nicht zulassen, dass Papa seine Erinnerung an Jose so aus dem Kopf wirft, wie er Jose aus der Wohnung geworfen hätte, wenn er gewusst hätte, dass er homosexuell ist.«
Pfarrer Banigas seufzte schwer und fragte: »Was hat dir Jose noch erzählt?«
»Na ja, nachdem er mir gestanden hat, dass er Jungs mag und dass er in diesem Angel’s arbeitet, hat er mir noch verraten, wie viel Geld er dort verdient. Fünfzig Dollar plus Trinkgeld – manchmal hundert Dollar an einem Abend! Er sagte, er darf sein Kostüm und sein Make-up im Klub aufbewahren. Leona Bonita nannte er sich, und mit dem Make-up und der Perücke und allem würde er aussehen wie ein Löwe.«
»Ich verstehe«, sagte Pfarrer Banigas.
»Und deshalb müssen Sie mir helfen, Hochwürden. Weil ich weiß, Jose hätte Gott um Vergebung dafür gebeten, dass er homosexuell ist, wenn er vor seinem Tod die Gelegenheit dazu gehabt hätte. Er hat es mir in meinem Traum erzählt. Er sagte, dass es ihm leidtut. Er sagte, dass er nicht gern in der Hölle ist, und er wollte, dass ich ihm helfe, in den Himmel zu kommen.«
Der Priester schwieg lange.
»Ich spreche Jose eingeschränkt von seinen Sünden frei«, sagte er schließlich. »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.«
»Danke!«
»Sprich zehn Vaterunser und zehn Ave Marias, und Jose wird Gott selbst um Vergebung bitten können. Dann sprich noch einmal fünf von jedem dafür, dass du den Tod deines Bruders Diego gewünscht hast.«
»Danke! Danke, Hochwürden Banigas!«
Marla lief zurück zu ihrer Bank, kniete nieder und sagte ihre Vaterunser und Ave Marias auf, so schnell sie konnte. Und als sie fertig war, stand die hübsche Elfjährige in dem großen gelben Sweatshirt auf und rannte den Gang entlang zur Seitentür. Die anderen Kinder hielten erschrocken die Luft an, und Schwester Esperanza rief ihr nach, aber Marla blieb nicht stehen – es war ihr egal, ob sie Ecke stehen oder etwas hundertmal an die Tafel schreiben musste.
Nein, alles, woran Marla Rodriguez dachte, als sie in den Kirchhof hinausrannte, war, dass sie Jose zum Abschied winken wollte. Denn sie war überzeugt, sie würde jetzt, da sie alles in Ordnung gebracht hatte, sehen können, wie seine Seele zum Himmel hinaufflog.
6
Special Agent Andy Schaap war am Verhungern. Es war seine eigene Schuld, verdammt noch mal. Er hätte sich einen von diesen faden Donuts greifen sollen, bevor er gegangen war. Wenn es jedoch etwas gab, das er von den Jungs im FB I -Außenbüro Raleigh in Erfahrung gebracht hatte, dann, dass die Steaks im Dubliner Hotel das bestgehütete Geheimnis der Stadt waren.
Doch inzwischen war es spät geworden, und ein Appetizer würde sein Erlebnis eines wohlverdienten, gut abgehangenen Vierhundert-Gramm-Rib-Eyes verderben. Essen. Abgesehen von Forensik das Einzige in seinem Leben, das Andrew J. Schaap zu einer Kunstform entwickelt hatte – vor allem, wenn es darum ging, jeden Cent der strengen Spesenregelung für Bundesangestellte auszunutzen. Und wenn er auf jemand anderen gewartet hätte, dann scheiß drauf, er hätte sein Steak schon vor einer halben Stunde bestellt. Aber bei Sam Markham konnte er das nicht machen. Natürlich wollte Andy Schaap nicht unhöflich erscheinen; noch mehr aber wollte er nicht schwach erscheinen.
Der Forensik-Spezialist wusste alles über Sam Markham und seinen kleinen Tanz mit Andy Briggs unten in Florida. Er hatte die Bilder der Ehrung gesehen und die Geschichten gehört, wie er den Scheißkerl festgenagelt hatte. Schaap schätzte Markham auf etwa sein eigenes Alter – Mitte bis Ende dreißig –, aber während Schaap nach zehn Jahren Ehe und einer bitteren Scheidung Haarausfall und einen netten
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