Opfermal
sind so was wie Zähne und ein Magen für schlechte Erinnerungen. Solche Worte habe ich zu deinem Onkel James und zu deiner Mutter auch in ihren Träumen gesagt, und schau dir an, wie stark und mutig sie geworden sind. Na ja, dein Onkel James zumindest. Was bei deiner Mutter schiefgegangen ist, weiß ich nicht.«
Edmund spürte, wie es ihm die Kehle zuschnürte, und Tränen stiegen ihm in die Augen. Er schluckte schwer.
» C’est mieux d’oublier, Eddie«, flüsterte Claude Lambert. »Diese Worte bedeuten: ›Es ist besser zu vergessen‹. Sag sie dir immer wieder vor und schau, ob es dir besser geht.«
Edmund zog die Stirn kraus und tat, worum ihn sein Großvater bat. Er wiederholte die Worte vor und zurück, bis sie richtig klangen – und bald fühlte er, wie die Tränen versiegten und seine Kehle sich nicht mehr zuschnürte.
»Siehst du«, sagte sein Großvater. »Es sind Zauberworte.«
Schweigen. Edmund dachte nach.
»Glaubst du, Gott lässt einen im Himmel träumen?«, fragte der Junge nach einer Weile.
»Warum fragst du das?«
»Na ja, wenn ich die Zauberworte richtig gut kann, vielleicht könnte ich dann zu Mama in ihren Träumen sprechen, so wie du in meinen zu mir sprichst.«
Claude Lambert kniff die Augen zusammen, packte den Jungen fester und zog ihn so nahe an sich heran, dass Edmund den Schnaps in seinem Atem riechen konnte.
»Deine Mutter ist nicht im Himmel, Eddie«, sagte der Alte ruhig. »Sie hat sich umgebracht. Und wer sich umbringt, kommt in die Hölle. Vergiss das nie.«
44
Kämpfen. Immer kämpfen. Aber was zuerst kam, die Medizin oder das Kämpfen, das wusste Edmund Lambert nicht mehr. Die Medizin bewirkte, dass er sich besser fühlte, aber nicht so gut wie durch das Kämpfen. Und wenn der Schmerz von den Raufereien ihn nachts wachzuhalten drohte, ließ ihn die Medizin durchschlafen bis zum Morgen, ohne dass er ein einziges Mal aufstehen musste, um zu pinkeln.
Fast drei Jahre lang nach dem Tod seiner Mutter wusste Edmund jedoch absolut nichts von der Medizin, hatte keine Ahnung, dass sein Großvater sie ihm heimlich ins Essen mischte oder manchmal in die Milchshakes, die er im Mixer für ihn machte. Die Milchshakes waren selten, aber die Medizin war noch seltener, und in den Nächten, wenn sein Großvater sie ihm gegeben hatte – und selbst dann nicht jede Nacht –, träumte Edmund von jemandem, der sich der General nannte.
Die Träume von dem General waren anders als die normalen Träume, und erst wenn er aufgewacht war und lange an die Decke gestarrt hatte, erinnerte er sich daran, dass er überhaupt geträumt hatte. Außerdem fühlte sich der Raum hinter seinen Augen dicht und klebrig an, die Erinnerungen waren hauptsächlich große schwarze Löcher, die einen Druck in seinen Nebenhöhlen und das vage Bewusstsein vom Vergehen von Zeit mit sich brachten.
Manchmal erschien der General zwischen den großen Löchern in bunten Wirbeln und Blitzen, aber Edmund konnte nie sein Gesicht sehen, konnte nie überhaupt irgendetwas von ihm sehen. Gleichwohl wusste er, dass er da gewesen war – es war eher das Gefühl von einer Person als eine tatsächliche Person, anders konnte es Edmund nicht beschreiben. Und manchmal glaubte er, das Wort »General« in den Wirbeln und farbigen Blitzen treiben zu sehen, aber Edmund war sich nie sicher, ob er es sich nicht nur hinterher ausgedacht hatte, weil er gewusst hatte, dass der General da gewesen war. Der General war ein bisschen wie die Luft, dachte Edmund. Man war sich ihrer nie bewusst, bis man an sie dachte, und auch dann konnte man sie nicht sehen.
Schon früh kam Edmund der Gedanke, der General könnte ein Geist sein. Geister waren wie die Luft. Man konnte sie die meiste Zeit nicht sehen, aber man wusste, dass sie da waren, weil sie einem Angst machten. Und die Farm war auf jeden Fall alt genug. Edmund hatte irgendwo gelernt, dass Geister alte Häuser mochten. Und natürlich war da der Dachboden, wo seine Mutter gestorben war. Geister wohnten in Dachböden, das wusste Edmund. Aber sicherlich war seine Mutter kein Geist, sie konnte ja nicht in der Hölle und auf dem Dachboden zugleich sein.
Edmund verstand, dass seine Mutter nie mehr so zurückkommen würde wie zu ihren Lebzeiten, aber er ertappte sich oft bei dem Wunsch, einen Weg zu finden, wie er sie aus der Hölle herausholen und als Geist in den Dachboden verfrachten könnte. Geister waren tote Menschen, die in alten Häusern festhingen, anstatt in die Hölle oder in den Himmel
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