Opfermal
Leibeskräften, aber es machte nur halb so viel Spaß, wenn seine Mutter nicht zuschaute. Und als das Lied vorbei war, als das unheimliche Video mit dem Mann mit den komischen Haaren kam, der immer fragte: » How could you think «, wieder und wieder, da kletterte Edmund vom Bett und ging seine Mutter suchen.
»Warum hängst du an der Decke, Mama?«, fragte er, als er das obere Ende der Dachbodentreppe erreicht hatte. Aber als seine Mutter nicht antwortete, als Edmund sie anstieß und sie nur hin und her schaukelte, da bekam er es mit der Angst und fing an zu weinen.
» Your body is the doorway «, sagte der Mann mit der komischen Frisur im Schlafzimmer, und Edmund rannte in die Küche hinunter und wählte die Notrufnummer. Er sagte zu der Frau am anderen Ende, dass seine Mutter tot war und an der Decke hing und dass er nichts dafür konnte. Dann lief er hinaus auf das Tabakfeld, wo sein Großvater und ein Gruppe Männer noch immer an dem kaputten Traktor arbeiteten.
Unter Tränen erzählte Edmund seinem Großvater, dass seine Mutter tot war. Der kleine Junge wusste Bescheid über den Tod, weil er zugesehen hatte, wie sein Großvater das Kaninchen Batman im Frühjahr im Garten vergraben hatte. Edmund wusste nicht, ob man seine Mutter neben Batman im Garten begraben würde, aber er wusste, tot sein bedeutete, dass man nicht aufwachte.
Auch nicht, wenn man ganz fest gestupst wurde.
43
Sein ganzes Leben lang, so schien es ihm, war Edmund Lambert auf der Suche gewesen.
Auf der Suche. Zuerst wohl nach seiner Mutter; dann nach etwas, auf das er den Finger einfach nicht legen konnte. Dennoch wusste er, dass es da war. Auf der anderen Seite seiner Träume wartete. Irgendwann würde es zu ihm kommen, dachte er. Eines Morgens, wenn er es am wenigsten erwartete. Mit dem Sonnenaufgang. Eine neue Dämmerung, die flüsterte: Endlich, Edmund, endlich.
Als Edmund zehn war, konnte er sich kaum noch an etwas aus seinem Leben vor dem Tag erinnern, an dem er seine Mutter an dem Dachbalken baumelnd fand. Verworrene Bilder hauptsächlich, die das vage Gefühl einer anderen Person mit sich brachten – einer Figur aus einer Fernsehserie, die er vor dem Schlafengehen immer angeschaut hatte, ein glücklicher kleiner Junge, den Edmund beneidete.
Aber die Fernsehserie, die danach lief? Nun, den kleinen Jungen in dieser Serie beneidete Edmund Lambert kein bisschen.
Die Serie begann mit einer Folge über die Mutter des Jungen, über ihre Beerdigung und den hohen Kragen, den sie tragen musste, um ihren Hals zu verbergen. Dann konzentrierte sich die Sendung auf die Trauer, die der Junge in den Wochen, die folgten, empfand. Diese Folgen spielten manchmal im Schlafzimmer des kleinen Jungen, im Dunkeln, wenn der Junge im Bett seiner Mutter sagte, wie sehr er sie vermisste. Diese waren am schwersten anzusehen, aber alles wurde noch schlimmer, als der Großvater in der Serie das Jahrbuch der toten Mutter fand.
»Ihr hattet also ein Geheimnis, du und deine Mutter«, sagte er und zog das Jahrbuch aus seinem Versteck in den Bodenbrettern. »Du wusstest die ganze Zeit, wer dein Vater ist, hab ich recht, Eddie?«
»Ich musste ihr versprechen, dass ich es dir nicht sage, Grandpa«, sagte der Junge. »Mama hat gesagt, Daddy ist Daddy, auch wenn er tot ist wie Batman im Garten hinten. Und sie hat gesagt, ich darf ihm einen Gutenachtkuss geben, weil ich sie gefragt habe, ob ich darf, weil ich Batman nicht mehr küssen kann, weil er in der Erde ist und ganz schmutzig, obwohl er auch im Himmel ist.«
»Ich verstehe«, sagte der alte Mann. Claude Lambert setzte sich auf den Boden und dachte nach, sehr lange, wie es Edmund schien. Dann öffnete er das Jahrbuch, blätterte zu der Seite mit Danny Gibbs’ Foto und riss die Seite heraus. Sorgfältig zerriss er das Foto des jungen Mannes, rollte und drückte das kleine Stück Papier zwischen Daumen und Zeigefinger, bis Danny Gibbs nicht größer als ein Aspirin war. Edmund sah seinem Großvater schweigend zu.
»Komm her, Eddie«, sagte der alte Mann schließlich.
Edmund gehorchte und setzte sich neben ihn auf den Boden.
»Weißt du noch, wie ich dir das Spucken beigebracht habe?«
»Ja«, sagte der Junge.
»Gut. Ich möchte, dass du jetzt so viel Spucke im Mund sammelst wie damals, als ich es dir gezeigt habe.«
»Warum?«
»Tu einfach, was ich sage, Eddie.«
Edmund gehorchte.
»Ist dein Mund voll?«, fragte sein Großvater. Edmund nickte. Und Claude Lambert griff blitzschnell nach dem Gesicht
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