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Opfermal

Opfermal

Titel: Opfermal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Funaro
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selbst, Kurse zu belegen, und als Edmund fünf war, fehlten ihr nur noch ein paar Scheine für ihren Abschluss als Wirtschaftssekretärin.
    Und wenn Annie darüber nachdachte, dann standen die Dinge eigentlich ganz gut auf der alten Farm. Auf jeden Fall besser als vor ihrer Schwangerschaft und bevor James ins Gefängnis gekommen war. Immerhin schien Claude Lambert seinen Enkel sehr zu lieben und fragte Annie tatsächlich um Erlaubnis, wenn er ihn auf dem Traktor mitfahren lassen wollte oder wenn sie zusammen mit Rally auf dem Baseballfeld ein paar Bälle fangen wollten. Er brachte dem Jungen bei, wie man einen Knuckleball warf, ehe er fünf war, er brachte ihm das Angeln bei und wie man Bäume voneinander unterschied – Dinge, die ihr Vater wohl auch mit James getan hatte, dachte Annie.
    Aber die Sache mit dem Namen? Das E-D-D-I-E im Sand?
    Nun, Annie Lambert begriff sofort, dass damit alles vorbei war für sie.
    Dass der kleine Edmund schon mit drei lernte, seinen Namen zu schreiben, überraschte Annie nicht. Ihr Sohn war ein sehr kluger Junge. Er lief mit elf Monaten und sprach mit zwei Jahren in ganzen Sätzen. Woher er es hatte, wusste niemand.
    Doch es war die Art, wie sich das E-D-D-I-E im Sand an sie heranschlich – ja, das war es, was sie erledigte. Eine Botschaft, die die ganze Zeit da gewesen war. Eine Botschaft, die sie über die Klippe trieb, sobald sie sich endlich erinnerte.
    Es war eine Woche nach Edmunds fünftem Geburtstag. Der Junge spielte für sich allein im Garten, als Annie auf die hintere Veranda trat, um ihn für Sandwichs und Limonade ins Haus zu rufen. Mit dem Traktor ihres Vaters stimmte etwas nicht. Sie hörte ihn draußen auf dem Feld ein knirschendes Geräusch machen. Und als Eddie nicht kam, als sie rief, ging Annie nach ihm sehen.
    Sie fand ihn hinter dem alten Pferdestall, mit einem Stock in der Hand, wie er auf das große E-D-D-I-E hinuntersah, das er gerade in den Sand geschrieben hatte. Annie sah rot; sie wusste natürlich, dass ihr Vater dahintersteckte.
    »Du dummes Balg!«, schrie sie und streckte die Hand nach den Brustwarzen ihres Sohns aus.
    Dann hielt sie inne.
    Ein dunkler Blitz – ein Schatten –, dann der Pferdestall wieder und ein verschwommener Klecks von etwas Wahrem, etwas das kurz vor ihren Augen vorbeizog, bevor es sich wie eine Sägeklinge unsichtbar in ihrem Magen zu drehen begann.
    »Medizin«, flüsterte Annie geistesabwesend und sah aus einem Berg von zerbrochenen Porzellantassen, gestohlenen Kuchenstücken und zerquetschten Lippenstiften auf ihren Sohn hinab.
    C’est mieux de mourir que de se rappeler, Annie.
    Das stimmt nicht.
    Aber das E-D-D-I-E im Sand sagte ihr etwas anderes.
    M-E-D-I-Z-I-N.
    Es ist besser zu sterben, als sich zu erinnern, Annie.
    Sie spürte ein Knacksen in ihrem Kopf, der Garten schob sich schief vor ihren Blick, und dann der hohe, sirrende Ton in ihren Ohren. Sie hörte Edmund fragen, was los sei, aber Annie lächelte nur und sagte, er soll die Rolle Seil aus der Scheune holen. Edmund gehorchte, und nach dem Mittagessen gab ihm Annie drei Zuckerkekse extra, weil er das ganze Mortadella-Sandwich aufgegessen hatte.
    »Du siehst heute komisch aus«, sagte der Junge. »Wie einer von diesen Robotern im Fernsehen, die wie echte Menschen aussehen können.«
    Annie lächelte.
    »Komm, wir gehen in Mamas Schlafzimmer und schauen fern«, sagte sie. »Und sei ein braver Junge und trag dieses Seil für mich, okay?«
    Edmund raffte das Seil zusammen und folgte seiner Mutter nach oben in ihr Schlafzimmer. Sie legte ihn auf das Bett und machte den Fernseher an. Er war bereits auf MTV eingestellt.
    »Wenn du geduldig genug bist«, sagte sie, »wenn du wartest wie ein lieber Junge, kommt irgendwann ›Born in the USA ‹, und du darfst auf dem Bett springen und so laut singen, wie du kannst, okay?«
    Der kleine Edmund klatschte in die Hände und schrie »Juhu!« Er liebte es, auf dem Bett seiner Mutter zu hüpfen, aber »Born in the USA « liebte er noch mehr. Er kannte fast den ganzen Text auswendig, auch wenn er ein paar Worte fälschte, weil er nicht verstand, was Bruce Springsteen sang.
    Annie küsste ihren Sohn auf die Stirn. »Ich liebe dich«, sagte sie nüchtern, dann hob sie das Seil auf und stieg die Treppe zum Dachboden hinauf.
    Der kleine Edmund wartete geduldig wie ein braver Junge, und es erschien ihm wie eine Ewigkeit, bis endlich, wie versprochen, »Born in the USA « kam. Edmund sprang auf dem Bett auf und nieder und sang aus

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