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Opferschrei

Opferschrei

Titel: Opferschrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lutz
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den Pick-up neben der Hütte parkte, konnte Luther verstehen, warum niemandem auffallen würde, dass das Boot fehlte. Außer Tom kam wohl kaum jemand hierher. Der einzige Ort, wo die Bäume unterbrochen waren, war ein flaches, sumpfiges Stück Land, das eine Brutstätte für Moskitos war, die über die beiden Männer herfielen, sobald sie aus dem Truck geklettert waren.
    Wilde schlug nach einem der gierigen Insekten auf seinem Arm und nahm seinen schweren Angelkasten aus Metall von der rostigen Ladefläche des Trucks.
    Luther ging zum Ende des Trucks und holte die Angelrute, einen zweiten Angelkasten und einen Kescher. Er fühlte, wie ein Moskito ihn in den Nacken stach, aber da er beide Hände voll hatte, konnte er nicht nach ihm schlagen. »Verdammte Blutsauger!«
    »Furchtbar, nicht?«, sagte Wilde und führte Luther den steilen, matschigen Pfad hinunter zum Boot und dem abschüssigen Flussufer.
    Das Vierzehn-Fuß-Dinghi lag ungefähr fünf Meter vom Wasser entfernt. Es hatte drei Sitzbänke, unter denen ein Paar Ruder lag. Der Rumpf war matschverkrustet und faulte an einigen Stellen. Das Boot war einmal hellgrün gewesen, mit einem roten Streifen auf Höhe der Wasserlinie. Das Grün hatte sich in ein verwittertes Grau verwandelt, und der Streifen war, außer am Bug, kaum noch zu erkennen. Zwar lag das Boot ein gutes Stück vom Wasser entfernt, aber da in dem Gebiet oft Hochwasser herrschte, war es mit einem dicken Seil an der Achse eines Autos festgebunden, die in die Uferböschung eingegraben war.
    »Bist du sicher, dass dieses Ding schwimmt?«, fragte Luther besorgt.
    Wilde lachte leise. »Es ist wie du, Luther – seetüchtiger, als es aussieht.«
    »Ich habe nicht vor, den Fluss bis zur See hinunterzufahren«, sagte Luther.
    Wilde band das Boot los und warf das Seil in den Bug. Luther schob von hinten, während Wilde zog, und gemeinsam bugsierten sie das Boot durch das Gras und den Matsch ins Wasser. Wilde watete knietief hinein und befestigte die Bugleine an einem schlanken Ast, der vom Ufer dicht übers Wasser hing.
    Dann gingen die beiden zurück und holten die Angelsachen. Sie trugen alles zum Boot hinunter und luden es ein. Das Mondlicht spiegelte sich matt im Wasser. Sie befanden sich in einer kleinen Bucht, und obwohl ein Stück des dunklen, mit Bäumen bewachsenen Ufers auf der anderen Seite zu sehen war, war sich Luther sicher, dass niemand sie beobachtete. Er schlug nach einem Moskito, der versuchte, Blut aus seinem Handrücken zu saugen, und fühlte, wie er das Insekt mit seiner Hand zerquetschte.
    »Sobald du draußen auf dem Fluss bist«, meinte Wilde, »werden sie dich nicht weiter belästigen. Sie kommen nicht gegen die Strömung an.«
    Beide Männer waren außer Atem von ihren Bemühungen mit dem Boot und dem schweren Angelzeug. Eine Weile standen sie schnaufend da und überlegten, wie sie sich voneinander verabschieden sollten.
    Zum ersten Mal hielt Luther es nicht nur für möglich, sondern für wahrscheinlich, dass er entkommen würde. Er würde tatsächlich mit dem Boot den Fluss hinunterfahren, es versenken oder an einem abgeschiedenen Ort festmachen und sich seinen Weg in die Sicherheit suchen, zu einer zweiten Chance, einem neuen Leben. Er konnte jemand vollkommen anderes werden, die Person, die ich schon immer sein wollte , wie Tom Wilde vorgeschlagen hatte.
    Tom Wilde, der wie ein Vater zu ihm gewesen war, der aber auch der Einzige war, der ihn mit dem Mord an Milford und Cara in Verbindung bringen konnte.
    Luther, dessen Gedanken wieder klarer geworden waren, hatte darüber nachgedacht. Es gab eine Menge Hinweise darauf, dass er zum Zeitpunkt der Morde im Haus gewesen war, doch wenn er geschnappt wurde, konnte er immer noch sagen, dass der Eindringling, der die Sands ermordet hatte, es auch auf ihn abgesehen gehabt hatte. Er würde behaupten, er hätte sich mit dem Küchenmesser verteidigt und wäre dann durch das Haus nach draußen gerannt und geflüchtet. Er wüsste natürlich, wie die Sache für ihn aussah, deshalb sei er davongelaufen. In einer Situation wie dieser wäre jeder davongelaufen.
    Sein Leben auf der Straße hatte ihn gelehrt, wie wichtig es war, sich eine Geschichte zurechtzulegen, für den Fall, dass man eine brauchte.
    Doch es war eine Geschichte, der Tom Wilde widersprechen konnte und würde, wenn er unter Eid vor Gericht aussagen müsste.
    Luther warf einen Blick auf die schwere Anglerkiste aus Stahl und die dicke Bugleine. Er spürte, dass er jetzt anders war.

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