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Opferschrei

Opferschrei

Titel: Opferschrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lutz
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der Van gleich neben dem Rolltor stand. Er parkte dicht daneben, dann stieg er aus. Die schmale Tür neben dem Rolltor war unverschlossen. Luther blickte die Straße hinauf und hinunter, bevor er hineinschlüpfte.
    Tom Wilde stand an seiner Werkbank und sammelte wie jeden Morgen seine Utensilien zusammen: Farbdosen, Eimer und Spachtel. Er bereitete sich auf den heutigen Auftrag vor, den er später am Morgen in Angriff nehmen würde. Luther wusste, dass sein Einsatzort etwas weiter entfernt lag; Tom wollte früh anfangen und das Morgenlicht nutzen.
    Er stand da und sah Tom von hinten zu. Eine unerwartete Welle der Zuneigung durchflutete ihn. Die vertraute, leicht gebeugte Gestalt in ihren bequem geschnittenen Jeans und einem gesprenkelten weißen Malerhemd, mit dem ungekämmten Haarschopf und den Ohren, die ein wenig abstanden, weckte irgendwie Zuversicht und Vertrauen in ihm.
    Wilde spürte, dass jemand hinter ihm stand, und drehte sich erschrocken um.
    »Luther! Um Himmels willen, Junge, hast du mir einen Schrecken eingejagt.« Wilde betrachtete ihn genauer. »Was machst du hier um diese Zeit? Ist alles in Ordnung?«
    »Nichts ist in Ordnung, Tom!«
    Luther wollte Wilde alles erklären, aber stattdessen fing er an zu weinen. Verlegen, beschämt und verängstigt setzte er sich auf einen Zehn-Liter-Farbeimer und schluchzte.
    Wilde ließ ihn weinen. Er legte eine Hand sanft auf Luthers Schulter, als Zeichen, dass er da war, dass er sich um ihn kümmerte, und wartete geduldig. Er ließ Luther alle Zeit und Tränen der Welt.
    Als Luthers heftige Schluchzer etwas nachließen und weniger wurden, ging Wilde zu dem Wandschrank über der Werkbank und holte eine Flasche Bourbon und ein Wasserglas. Er schenkte zwei Fingerbreit ein und brachte Luther das Glas. »Drink das. Schluck es ohne Luft zu holen hinunter.«
    Luther tat, wie ihm geheißen, und der Alkohol traf ihn mit einer warmen Wucht, die seine Gedanken aufrüttelte. Er nahm einen Atemzug und bereute es sofort, als er die Alkoholdämpfe einatmete und beinahe würgen musste.
    »Tief einatmen, Luther.« Wildes Hand lag wieder auf seiner Schulter. »Zeig dem Alt-Männer-Gesöff, wer hier das Sagen hat.«
    Luther saß da mit, die Ellbogen auf den Knien, den Kopf gebeugt, und atmete tief durch, so wie Wilde ihn angewiesen hatte. Allmählich verschwand der Würgreiz, während er den kühlenden Duft des Bourbons einsog. Er klärte seinen Kopf wie eine Brise in einer warmen Nacht.
    Er hatte sich wieder unter Kontrolle. Kontrolle. Kontrolle war wichtig. »Jetzt geht es mir besser, Tom.«
    »Gut. Dann lass uns reden. Meistens sind die Dinge nicht so schlimm, wie sie auf den ersten Blick aussehen. Und was immer auch los ist, vielleicht kann ich dir helfen.«
    »Niemand kann mir jetzt noch helfen«, sagte Luther mit flacher Stimme.
    »Das denken die Leute immer und meistens liegen sie falsch damit. Ich bin dein Freund. Probier einfach aus, ob ich dir helfen kann. Du hast nichts zu verlieren. Wo bist du gewesen, seit deinem Eklat mit Milford?«
    »Bei Cara.«
    »Cara? Du meinst Cara Sand?«
    Luther nickte.
    »Ich versteh nicht recht«, sagte Wilde.
    Luther sah zu, wie er hinüber zur Werkbank ging und für sich selbst Bourbon in ein Glas goss, das er mit einem großen Schluck leerte. Es schien keinen Einfluss auf seine Atmung zu haben. Er schenkte Luther sein beruhigendes, kluges Lächeln.
    »Cara Sand also? Okay, ich bin bereit. Du kannst es mir erzählen, Luther.«
    Und das tat Luther – mit seiner neuen Stimme, die flach und sehr, sehr ruhig klang.
    Als Luther fertig war, ging Wilde zur Werkbank und trank ein zweites Glas.
    »Ich will nicht an deinen Worten zweifeln, Luther, aber bist du dir sicher, dass du das alles nicht nur geträumt hast?«
    »Ich bin mir sicher.«
    »Wie wäre es, wenn wir zum Haus der Sands fahren und du es mir zeigst?«
    Luther sprang auf. »Ich will nicht dorthin zurück! Ich kann nicht!«
    Wilde blickte ihn an und nickte. »Okay. Hast du was dagegen, wenn ich sie anrufe?«
    »Nur zu. Sie werden nicht drangehen.«
    Wilde benutzte das Telefon auf seinem vollgestopften Schreibtisch. Während er dastand und dem Läuten am anderen Ende der Leitung lauschte, blickte er Luther an.
    »So früh am Morgen sollten sie eigentlich zu Hause sein, es ist noch nicht einmal hell draußen.«
    »Sie sind zu Hause.«
    Nach drei oder vier Minuten legte Wilde den Hörer auf.
    Eine Weile stand er da und kaute auf der Innenseite seiner Backe, so wie er es immer tat, wenn er

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