Opferschrei
– mehr für sich selbst als für irgendjemand, der sie beobachten könnte – warf sie einen Blick auf die Armbanduhr, so als ob sie sich wegen der Uhrzeit Sorgen machen würde. Auf jemand warten … das ist es, was ich hier tue …
Fast eine Stunde lang sah Anna zu, wie Leute das Restaurant betraten oder verließen. Dann kam Quinn mit zwei Leuten heraus, die nicht lange, nachdem sie ihre Position auf der anderen Straßenseite bezogen hatte, hineingegangen waren. Der eine war ein Mann mittleren Alters mit beginnender Glatze und einem schrecklich verknitterten braunen Anzug, der seine Wampe betonte. Die andere war eine kleine, dunkelhaarige Frau, die selbst aus der Entfernung sehr lebendig wirkte. Sie trug einen konservativ geschnittenen grauen Rock und einen dunklen Blazer, der ihre Kurven nicht verbarg.
Das mussten die anderen beiden Detectives sein, von denen Anna in der Zeitung gelesen hatte. »Team Quinn.« Die Freunde und Helfer des Vergewaltigers.
Anna verspürte eine überwältigende Neugier, was Team Quinn betraf. Sie wollte wissen, wohin sie gingen, wenn sie frei hatten, was sie gerne aßen, welche Fernsehsendungen sie mochten, was für Hobbys sie hatten. Wie verbrachten sie ihre Freizeit – die Zeit, in der sie versuchte, an etwas anderes als an Quinn und das, was er ihr angetan hatte, zu denken? Was hielten die anderen beiden von Quinns zweiter Chance? Quinn, der niemals einen Gerichtssaal als Angeklagter von innen gesehen hatte, geschweige denn einen Tag in einer Zelle verbracht hatte. Sie sollten einen Mörder jagen, und wenn sie ihn kriegten, wäre Quinn – zumindest in manchen Köpfen – rehabilitiert.
Ein echter Vergewaltiger. Echte Detectives. Wie sie wohl ihren Arbeitstag verbringen?
Die drei Detectives gingen langsam und lässig den Gehweg hinunter, redeten miteinander und gestikulierten dabei. Dann blieben sie neben einem weißen Auto stehen und unterhielten sich noch ein paar Minuten. Quinn hatte beide Hände in die Hosentasche geschoben und schien jetzt der Hauptredner zu sein.
Der Mann in dem ausgebeulten Anzug stieg in den Wagen, und die dunkelhaarige Frau ging um das Fahrzeug herum zur Fahrerseite. Doch bevor sie das tat, in der kurzen Zeit, in der sie und Quinn allein auf dem Gehweg standen, strich sie mit ihren Fingerspitzen leicht über Quinns Arm und lächelte ihn an.
Interessant …
Sie lächelte Quinn immer noch an, der bewegungslos dastand und sie beobachtete, während sie sich hinter das Lenkrad des Wagens setzte.
Quinn bewegte sich nicht, bis der Wagen sich in den Verkehr eingefädelt hatte und davonfuhr. Ein paar Tauben, die im Rinnstein gepickt hatten, flatterten auf, um nicht überfahren zu werden, dann ließen sie sich wieder genau dort nieder, wo sie vorher gesessen hatten.
Als das Fahrzeug – wahrscheinlich ein Dienstwagen – um die Ecke verschwunden war, setzte Quinn sich in Bewegung. Er ging ganz entspannt und ohne große Eile, eine Hand immer noch in der Hosentasche. An einem Kiosk in der Nähe der Kreuzung hielt er an. Er zog eine Hand aus der Hosentasche und warf ein paar Münzen auf einen Stapel Zeitschriften, dann nahm er sich eine Zeitung. Nachdem er einen Blick darauf geworfen hatte, klemmte er sie sich unter den Arm und setzte seinen Weg fort.
In Annas Kopf gab es keinen Zweifel daran, was sie tun sollte. Sie hatte kein Auto, deshalb hätte sie den anderen beiden Detectives gar nicht folgen können.
Also blieb nur Quinn.
Tu es nicht. Dreh dich um und geh nach Hause. Du bist so dumm, so dumm …
Doch sie war hier und hatte nichts Besseres zu tun als ihm zu folgen.
Anna gab den Versuch auf, sich selbst davon abzuhalten. Sie ging eh schon hinter ihm her, obwohl sie sich nicht bewusst dazu entschieden hatte. Es war, als ob eine höhere Macht die Entscheidungen für sie traf.
Sie war sich sicher, dass es etwas mit der Pistole zu tun hatte, aber sie verstand den Zusammenhang nicht.
*
Leon Holtzmann war hungrig.
Die roten Leuchtziffern auf der Schlafzimmeruhr zeigten an, dass es Viertel vor drei war. Leons Magen war am Abend nicht ganz in Ordnung gewesen und er hatte nur etwas Leichtes gegessen, als Lisa und er Freunde zum Abendessen im French Affaire getroffen hatten. Der Minz-Cappuccino, den er nach dem Essen getrunken hatte, hatte seiner Verdauung nicht geholfen, wie er törichterweise behauptet hatte. Lisa hatte ihn davor gewarnt, Kaffee zu trinken, um seine Magenbeschwerden zu behandeln: Bist du etwa ein Arzt, Leon? War er nicht. Er hätte auf
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