Opferschrei
sie hören sollen.
Nachdem sie sich vor dem Restaurant von dem anderen Pärchen verabschiedet hatten, waren Lisa und er mit dem Taxi nach Hause gefahren, das durch mindestens ein Dutzend Schlaglöcher gerumpelt war. Nach jedem Loch trat der Fahrer aufs Gas, um dann wieder ganz plötzlich abzubremsen, als ob er ein Dreißig-Meter-Beschleunigungsrennen nach dem anderen fahren würde. Zeitweise befürchtete Leon, sein kleines, aber feines Abendessen auf dem Rücksitz des Taxis von sich zu geben. Irgendwann machte er dem Fahrer mit grimmiger Miene den Vorschlag, sein Taxi mit Kotztüten auszustatten.
Es war nach elf, als sie zu Hause ankamen. Er hatte ein paar verschreibungspflichtige Tabletten von Lisa genommen, die abgelaufen waren, und war schnurstracks ins Bett gegangen.
Jetzt, weniger als vier Stunden später, schien das, was Leon auch immer geplagt hatte, verschwunden zu sein, vielleicht dank der Pillen, deren Namen oder Wirkstoff er sich unbedingt merken musste. Sein normalerweise gesunder Appetit war wieder zurück.
Er blickte hinüber zu Lisas dunkler Gestalt und lauschte ihrem Atem. Sie schlief anscheinend fest, und Leon wollte sie nicht stören. Er hielt die Luft an, als er aus dem Bett stieg und nach seiner Hose auf dem Stuhl tastete, wo er sie am Abend abgelegt hatte.
Im Schlafzimmer war es dunkel, und er war immer noch desorientiert; er musste sich mit einer Hand an der Kommode abstützen, als er mit dem linken Bein in die Hose fuhr und mit dem großen Zeh hängenblieb. Beinahe wäre er umgefallen und fluchte leise. Vor fünfzehn – nein, zehn! – Jahren hätte er seine Hose in einem dunklen Raum anziehen und dabei rennen können. Er wäre in seine verdammte Hose hineingesprungen! Das war der junge Leon Holtzman!
Er richtete sich auf und schloss seinen Gürtel, dann überzeugte er sich noch einmal mit einem Blick auf Lisa, dass er sie nicht aufgeweckt hatte, und machte er sich auf den Weg in die Küche.
Er erkannte auf den ersten Blick, dass es im Flur heller war als es sollte. Lisa musste – mal wieder – vergessen haben, das Licht in der Küche auszuschalten, bevor sie ins Bett gekommen war. Und das bei den heutigen Strompreisen! Vielleicht sollte er sie sanft aufwecken und ihr ganz freundlich sagen: Schatz, ich wollte dich nur darauf hinweisen, damit du es das nächste Mal nicht vergisst, dass du wieder einmal ins Bett gegangen bist und das Licht in der Küche angelassen hast.
Nein, das war wahrscheinlich keine gute Idee.
Leon war immer noch leicht verärgert über die Vergesslichkeit seiner Frau und in Gedanken, als er die Küche betrat.
Gleich an der Tür blieb er wie angewurzelt stehen.
Unglaublich!
Sein Verstand versuchte, Schritt zu halten und herausfinden, ob er erschrocken, wütend oder beides sein sollte beim Anblick des fremden Mannes, der am Küchentisch saß und Milch direkt aus dem Karton schlürfte. Unhygienisch! Leon stellte sich die alberne Frage, ob er den Fremden wegen seiner Gedankenlosigkeit und mangelnden Manieren zurechtweisen sollte. Er hörte seine Mutter, wie sie vor langer Zeit zu ihm gesagt hatte: Genau so verbreiten sich Krankheiten, Leon.
Er fing an, sich von seinem Schock zu erholen und stammelte unzusammenhängende Worte, während er ein paar Schritte auf den Fremden in seiner Küche zumachte, der lässig den Milchkarton auf den Tisch stellte.
Der Mann erhob sich, als ob er Leon zur Begrüßung die Hand schütteln wollte.
Lisa wachte auf.
Leon?
Sie spürte, dass ihr Mann weg war, noch bevor sie eine Hand nach ihm ausstreckte und das kalte Leintuch ertastet hatte.
War ihm schlecht geworden?
Er hatte sich gestern Abend im Restaurant nicht wohlgefühlt, und die Fahrt nach Hause hatte es noch schlimmer gemacht. Ihr Höllenritt im Taxi! Die U-Bahn wäre besser gewesen!
Ihr fiel wieder ein, was sie aufgeweckt hatte, ein Geräusch aus der Toilette im Flur oder vielleicht aus der Küche.
Leon war also aufgestanden und versuchte entweder, etwas gegen sein Unwohlsein zu finden, oder er fühlte sich besser und suchte in der Küche nach etwas zu essen. Entweder das eine oder das andere.
Lisa beschloss aufzustehen, um herauszufinden, was von beidem es war.
42
Quinn war gerade auf dem Weg zu seinem morgendlichen Treffen mit Pearl und Fedderman am Parkeingang, als sein Handy klingelte.
Er verlangsamte seinen Schritt, während er das Telefon aus seiner Tasche kramte und an sein Ohr hielt.
Harley Renz antwortete auf sein Hallo mit »Haben Sie noch Kraft für die
Weitere Kostenlose Bücher