Opferschrei
das war Jahre her, deshalb war er sich nicht sicher, ob er ihn erkannt hatte.
Mercer nickte und trat höflich zur Seite, damit Quinn in den Aufzug steigen konnte. Quinn nickte zurück, während er Mercers Augen studierte.
Es waren die Augen eines guten Cops: so neutral wie die Schweiz.
7
Marcy Graham musste die braune Lederjacke unbedingt anprobieren, und das führte zu einem Problem.
Sie wusste, dass Ron, ihr Mann, nicht gegen die Jacke war, weil sie ihm nicht gefiel, sondern weil es ihm nicht gefiel, sie bezahlen zu müssen. Dass die Jacke auftrug, war einfach absurd. Ein Blick in den Spiegel der exklusiven Boutique bestätigte es ihr. Der taillierte Schnitt der dreiviertellangen Jacke machte sie schlank. Ich hab kein Gewichtsproblem. Und der Preis war unglaublich. Um die Hälfte reduziert, weil die Saison vorbei war.
Aber später im Jahr, wenn es wieder kälter wurde, konnte sie die Jacke auf jeden Fall anziehen. Ihr gefiel, dass sie so schlicht war. Sie konnte verschiedene Accessoires dazu tragen, je nachdem, wie schick sie wirken wollte. Das sanfte Braun des Leders passte perfekt zu ihren blauen Augen und ihrem hellbraunen Haar.
»Sie macht Sie fünf Kilo leichter«, flüsterte der Verkäufer, als Ron wegging, um seinen Kaugummi in einem Behältnis zu entsorgen, das einmal ein Aschenbecher gewesen war. »Nicht, dass Sie es nötig hätten, aber trotzdem …«
Marcy nickte, traute sich jedoch nicht zu antworten, da Ron schon wieder mit großen Schritten auf sie und den Verkäufer zusteuerte. Sie standen vor einem großen Spiegel, der so konstruiert war, dass man sich von drei Seiten betrachten konnte.
Der Verkäufer war ein schmaler, gut aussehender Mann in einem europäisch geschnittenen Nadelstreifenanzug. Er hatte braune Augen mit langen Wimpern und schwarzes Haar, das er im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden hatte. An zwei Fingern jeder Hand trug er Ringe, Silber und Gold, und an einem Ohr baumelte ein Diamantohrring.
»Schauen Sie sich von allen Seiten an«, drängte der Verkäufer und schob Marcy näher an den dreiteiligen Spiegel heran. »Die Jacke bringt ihre Kurven wunderbar zur Geltung, finden Sie nicht?« Er zwinkerte nicht Marcy zu, sondern Ron.
»Versuchen Sie nicht, mich mit hineinzuziehen, wenn Sie ihren Kunden Schwachsinn erzählen«, sagte Ron. Er lächelte, doch Marcy und wahrscheinlich auch der Verkäufer wussten, dass er es ernst meinte.
Der Verkäufer strahlte Marcy an. »Es stimmt natürlich, was ich über die Jacke gesagt habe.«
»Das ist subjektiv«, sagte Ron.
»Oder die Kurven der Jacke passen perfekt zu den Kurven der Frau. Oder vielleicht umgekehrt.«
»Finden Sie das wirklich?«, fragte Ron sarkastisch. Marcy konnte sehen, dass er immer wütender wurde. Sie befanden sich jetzt auf ganz dünnem Eis. Gleich würde er auf den schmalen, femininen Mann losgehen.
Sie zuckte die Schultern und lächelte den Verkäufer im Spiegel an. »Mein Mann mag die Jacke wohl nicht, deshalb …«
»Ah! Aus irgendeinem Grund habe ich gedacht, er wäre nur ein Freund. Oder vielleicht Ihr großer Bruder.«
Ron warf dem Verkäufer einen wütenden Blick zu. »Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, Sie haben mich gerade beleidigt.«
Der Verkäufer zuckte entschuldigend mit den Achseln. »Das war ganz sicher nicht meine Absicht.«
»Das glaube ich allerding schon.«
Der Verkäufer zuckte wieder mit den Achseln, dieses Mal deutete seine Körpersprache aber ganz offensichtlich etwas anderes an. Spott.
Marcy fand, dass er jetzt gar nicht mehr aussah wie ein harmloser Verkäufer. Zwar wirkte er immer noch schwul, aber überhaupt nicht mehr feminin. Nicht die Art von Verkäufer, den man in einer protzigen Boutique wie dieser erwartete, die eigentlich nur vornehm tat, um die Preise in die Höhe zu treiben. Sein schlanker Körper wirkte geschmeidig und muskulös unter dem Nadelstreifenanzug, und ihr fiel auf, dass seine manikürten Hände ziemlich groß waren im Verhältnis zu seinem schlanken Körper. Seine Handrücken waren von dicken Adern überzogen. Die blaue Farbe eines ausgebleichten Tattoos lugte unter seinem rechten Ärmel hervor. Marcy wollte nicht miterleben, wie sich die beringten Hände zu Fäusten ballten.
»Lass gut sein, Ron«, sagte sie, während sie anfing, die Jacke aufzuknöpfen.
»Ich soll es gut sein lassen?« Dabei schaute er aber nicht Marcy, sondern den Verkäufer an. Im Gegensatz zu Marcy schien Ron nicht zu spüren, dass der schlanke Mann, der aussah wie
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