Opferschrei
Beispiel das alte Schwarz-Weiß-Foto, auf dem er seinen Arm um Tony Bennett gelegt hatte. Es war vor Jahren in L.A. aufgenommen worden, auch wenn Egan immer behauptete, es sei in San Franciso gewesen. Dann gab es da noch ein Farbbild, auf dem Egan mit Jennifer Jason Leigh und Bridget Fonda nach einer Filmpremiere plauderte, die er vor einiger Zeit besucht hatte. Und Egan mit Wayne Newton. Jedes dieser Bilder trug ein Autogramm.
Ein eindrucksvolles Büro, das einer eindrucksvollen und wichtigen Person gehören musste. Jemandem, den man nicht leichthin mit einer unwichtigen Information oder einer Beschwerde über die Führung des Departments belästigte.
Egan wurde des Wartens müde. Wer zum Teufel war dieser Kerl, und was wollte er von ihm? Und wie würde seine Zukunft aussehen, nachdem er gesagt hatte, was er zu sagen hatte, und das Büro wieder verlassen hatte?
Wehe, es ging um einen wohltätigen Zweck. Vielleicht sollte er für irgendwelche Viecher Geld oder Zeit opfern, und wenn er sich weigerte, würde er dastehen wie ein Arsch.
Wie das eine Mal, als dieser Typ sich ein Herz gefasst und Egan gebeten hatte, öffentlich zu der grauenvolle Art und Weise, wie Chinchillas auf Chinchillafarmen gehalten wurden, Stellung zu nehmen.
Was interessierten Egan Chinchillas? Was zum Teufel war überhaupt ein Chinchilla?
Egan warf einen Blick auf die Uhr und wünschte sich wieder, der Kerl würde endlich auftauchen. Er war schon fünf Minuten zu spät. So etwas bereitete Leuten Unannehmlichkeiten. Wie zum Beispiel Doris, Egans uniformierter Sekretärin, die sich selbst als seine Assistentin bezeichnete. Sie hatte eigentlich schon frei, wartete aber noch im Vorzimmer.
Doris, die immer kerzengerade wie ein Soldat hinter ihrem Schreibtisch saß, als ob sie einen Stock verschluckt hätte. Wahrscheinlich tippte sie gerade irgendein Diktat. Egan lehnte sich in seinem ledernen Schreibtischstuhl zurück und dachte über Doris nach. Sie war keine Schönheit, und normalerweise hielt Egan seine Arbeit und Ehebruch streng getrennt, aber seit ihrer Scheidung vor sechs Monaten schien sie ihm immer attraktiver zu werden. Klar, sie war schon über fünfzig, hatte aber noch immer eine gute Figur, und auch wenn sie kein Model war, hässlich war sie nicht. Und da gab es noch etwas, das Egan an ihr mochte: Mehr denn je brauchte sie ihren Job.
Egan lächelte. Doris war sehr korrekt und verhielt sich im Büro, als ob sie noch nicht einmal erogene Zonen besäße. Doch nachdem ihr Mann sie wegen einer Jüngeren verlassen hatte, taute sie vielleicht ein wenig auf, so wie ihre Vorgängerin. Was manche Frauen tun, um ihren Job nicht zu verlieren … Es klopfte wie üblich drei Mal kurz, dann öffnete sich die Tür ein Stück und Doris trat in sein Sichtfeld.
Trug sie engere Uniformhosen, seit sie Single war? Ihre Haare wurden definitiv grauer, und um die Mitte herum hatte sie zugelegt. Trotzdem …
»Officer Mercer ist jetzt da, Sir.«
Mercer. Verdammt! Er hatte Charlie Mercer gesagt, dass er nicht hierher kommen solle, außer es war wirklich wichtig. Selbst jetzt, vier Jahre später.
Egan fühlte sich plötzlich unwohl. Vielleicht ist es doch wichtig.
Er nickte und richtete sich in seinem Lederstuhl auf, während er mit der rechten Hand einige Blätter zur Seite schob, damit es so aussah, als hätte er sich gerade damit beschäftigt.
»Schicken Sie Officer Mercer herein, Doris.«
9
Marcy verstand es einfach nicht, und sie fragte sich, ob sie es überhaupt versuchen sollte.
Dort lag die Lederjacke, die sie in der Boutique anprobiert hatte und die der Grund für den Streit zwischen Ron und diesem Verkäufer gewesen war. Er hatte nur seine Arbeit getan und versucht, sie zum Kauf zu bewegen, aber Ron war ziemlich angepisst gewesen. Die Jacke lag auf der Lehne des Sofas, nicht nachlässig hingeworfen, sondern so, als habe sie jemand sorgfältig dort drapiert, damit sie sie gleich sah, wenn sie hereinkam. Eine nette Überraschung.
Marcy legte ihre Handtasche auf den Beistelltisch und ging zu der Jacke, berührte sie, strich mit den Fingern darüber. Wie weich das Leder war. Deshalb war sie ihr überhaupt erst aufgefallen. Sie hob ein Revers an, dann einen Ärmel, konnte aber kein Preisschild entdecken.
Sie hielt die Jacke am ausgetreckten Arm vor sich und betrachtete sie von allen Seiten. Es gab keinen Hinweis darauf, woher sie kam. Sie zog sie an und dachte, dass sie sich immer noch genauso gut anfühlte wie in der Boutique. Dann ging sie
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