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Opferschrei

Opferschrei

Titel: Opferschrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lutz
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ein Model, gefährlich sein könnte.
    Der Verkäufer lächelte. Obwohl er mindestens zwanzig Kilo leichter war als der eins sechsundachtzig große, neunzig Kilo schwere Ron, hatte er offensichtlich keine Angst. Er zuckte kein einziges Mal mit seinen langen Wimpern.
    »Warum sollte ich es gut sein lassen?«, fragte Ron. »Ich bin mit dem Verhalten dieses Mannes nicht einverstanden.«
    »Ich entschuldige mich für alles, was Sie als unangemessen empfunden haben«, sagte der Verkäufer. Sein Lächeln wirkte arrogant und aufgesetzt. Seine Zähne waren absolut gerade und sehr weiß.
    Rons Gesicht verdunkelte sich. Marcy konnte sehen, wie die dunkelblaue Vene an seiner Schläfe anfing zu pulsieren, so wie sie es immer tat, wenn er dabei war, die Kontrolle zu verlieren. Eine andere Kundin, die sich in der Nähe ein paar Kleider angeschaut hatte – eine große Frau in Designerhosen, einer ärmellosen Bluse und zu viel Schmuck –, warf ihnen aus den Winkeln ihrer großen Augen einen Blick zu und eilte auf dem Plüschteppich davon.
    »Bitte, Ron, ich zieh die Jacke ja schon aus.« Mit zitternden Fingern fummelte sie an den Knöpfen herum. »Ich habe entschieden, dass ich sie gar nicht will.«
    »Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte eine Stimme. Ein Mann, der so breitbeinig dastand, als ob er etwas zu sagen hätte, war zu ihnen herübergekommen und hatte sich zwischen den Verkäufer und Ron geschoben. Er stand näher bei Ron. Er war klein, glatzköpfig, hatte einen dunklen Schnauzer und trug den gleichen Nadelstreifenanzug wie der Verkäufer, nur in Schokoladenbraun statt in Blau. »Ich bin der Geschäftsführer.«
    »Ich glaube nicht, dass Sie uns helfen können«, sagte Ron, »aber dieser Idiot hier hat meine Frau angemacht.«
    Marcy schüttelte den Kopf. »Herrgott noch mal, Ron!«
    Der Verkäufer ließ seine Hände locker herabhängen und wirkte völlig ruhig. Fast amüsiert. Vielleicht, dachte Marcy, gehörte er zu der Art von Männern, die sich gezwungen sahen, sich mit größeren Männern anzulegen, um sich selbst etwas zu beweisen. Die Art von Männern, die auf die harte Tour hatten lernen müssen zu kämpfen und ständig darauf erpicht waren, ihr Können unter Beweis zu stellen. Sich vor der Dame zu profilieren, aber hauptsächlich vor sich selbst.
    »Haben Sie geflirtet , Ira?«, fragte der Geschäftsführer und schaute den Verkäufer an. Sein Ton legte nahe, dass er das kaum für möglich hielt.
    »Natürlich nicht. Wenn es so gewirkt hat, entschuldige ich mich vielmals.«
    Marcy zog die Jacke aus und reichte sie, erleichtert, dass sie aus ihr heraus war, dem Verkäufer.
    Er deutete eine Verbeugung an, als er das Kleidungsstück entgegennahm, und überreichte ihr mit der freien Hand lächelnd eine Visitenkarte. »Falls Sie Ihre Meinung doch noch ändern, ich heiße Ira.«
    »Sie weiß, dass Sie Ira heißen, und sie wird ihre Meinung nicht ändern«, sagte Ron. »Und Sie werden sie auch nicht für sie ändern.« Er packte Marcy am Ellenbogen. »Komm, Marcy. Wir verschwinden von hier.«
    Marcy ließ sich von ihm zur Tür führen. Sie wusste, dass er das Gefühl hatte, den Verkäufer übertrumpft zu haben, und gehen wollte, solange er die Oberhand besaß. Sie war froh darüber. Die Situation war so schon peinlich genug.
    »Marcy ist ein schöner Name«, hörte sie Ira leise hinter ihnen sagen.
    Ron schien es nicht gehört zu haben. Vielleicht tat er aber auch nur so.

8
    Er stand im Eingang eines Taschengeschäfts auf der anderen Straßenseite und beobachtete, wie Marcy Graham die Filiale der Fifth Federal Savings Bank verließ, in der sie als Abteilungsleiterin arbeitete. Sie blieb vor der Glastür der Bank stehen, die sich zwischen zwei falschen Steinsäulen befand, und warf einen Blick zum Himmel, als ob sie befürchtete, dass es regnen würde. Dann schien sie sich dagegen zu entscheiden, noch einmal hineinzugehen, um ihren Regenschirm zu holen, und setzte sich in Bewegung.
    Er folgte ihr.
    Inzwischen kannte er ihre Routen und Zeitpläne, ihre Aufenthaltsorte und Gewohnheiten. Nach der Arbeit stieg sie zwei Blocks von der Bank entfernt in die U-Bahn. Er genoss es, ihr beim Gehen zuzusehen. Sie ging auf ihren High Heels die Straße hinunter, die sanfte Brise drückte ihren Rock gegen ihre Schenkel, und ihre Brüste und Haare hüpften bei jedem Schritt. Ohne noch einmal anzuhalten, betrat sie die lange, dunkle Treppe, die zu den Drehkreuzen führte.
    Es war wundervoll, ihr dabei zuzusehen, wie sie die

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