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Opferschrei

Opferschrei

Titel: Opferschrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lutz
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Steintreppen hinabstieg und sich dabei so schnell bewegte, als ob ihr niemand im Weg wäre. Es sah es aus wie ein anmutiges, kontrolliertes Stolpern. Seine Augen saugten alles von ihr auf, die Kraft und Geschmeidigkeit ihrer Beine, die Art, wie ihre Arme schwangen, ihr Haar wehte, ihre Hüften sich gegeneinander verschoben – Bewegung, Gegenbewegung, der Rhythmus der Zeit und des Kosmos. In manchen Frauen war alles vereint.
    Sie fuhr mit der U-Bahn bis zu einer Station, die zwei Blocks von ihrer Wohnung entfernt lag, und ging den Rest des Wegs zu Fuß, so wie sie es immer tat, auf den ausgetretenen Pfaden ihres Lebens wandelnd. Er wusste, dass die Routine ihr ein sicheres Gefühl schenkte. Gleichförmigkeit verlieh Sicherheit, ganz einfach deshalb, weil sie einen vor Überraschungen bewahrte. Ihr Leben war bis über ihre eigene Wahrnehmung hinaus von Gewohnheit und Redundanz bestimmt. Wie beruhigend! Sie war so weise, ohne dass sie selbst es wusste.
    Manchmal folgte er ihr den ganzen Weg von der Bank bis zur U-Bahn, nahm denselben Zug, stieg sogar in denselben Wagen, und beobachtete sie, während seine Gedanken schweiften. Manchmal hatten beide das Glück, in der grauen Welt der U-Bahn einen Sitzplatz zu ergattern. Und meist waren da die üblichen U-Bahn-Widerlinge, die Frauen wie Marcy anstarrten. Das bedeutete, dass sie ihm keine Aufmerksamkeit schenkte, da sie damit beschäftigt war, sich wegen der stillen Beobachter zu sorgen, die sie ganz offen mit ihren Blicken verschlangen.
    Ihr Rot und ihr Rosa, die Nuancen ihrer Haut und die weiße Reinheit ihrer unsichtbaren Knochen.
    Nicht dass sich Marcy wegen dieser widerlichen Typen Sorgen zu machen brauchte. Sie war schon vergeben, auch wenn sie es selbst noch nicht wusste.
    Normalerweise folgte er ihr vom düsteren U-Bahn-Steig aus an die farbenfrohe Oberfläche und bis zu dem Haus mit der schmutzigen Steinfassade, in dem sich ihre Wohnung befand. Danach überquerte er die Straße und suchte sich einen Platz, wo er den Strom der Fußgänger nicht behinderte, aber die Fenster der Grahams gut im Blick hatte.
    Von Zeit zu Zeit sah er, wie sie oder er am Fenster vorbeiging, flüchtige Bewegung hinter den Glasscheiben. Kurze Einblicke in eine andere Welt, in der er nur ein Geist war und sie die strahlendste Bewohnerin.
    Er blieb immer nur kurz, höchstens zehn Minuten. Es war besser, keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen. Doch ihn faszinierte der Gedanke, dass Marcy und ihr Mann, ohne es zu wissen, dort umhergingen, wo er umherging, das berührten, was er berührte, vielleicht auf demselben Stuhl saßen, den er eben noch gewärmt hatte. Lebten, atmeten, sich und den anderen berührten. Ganz sich selbst waren an dem Ort, den er gerade erst verlassen hatte, um ihr dann wieder dorthin zurück zu folgen. Er beschattete Marcy nicht auf ihrem Heimweg, um herauszufinden, wohin sie ging, sondern um sie ganz genau beobachten zu können, wenn sie glaubte, sie wäre allein.
    An diesem Abend hatte es abgekühlt und die Luft war angenehm. Es würde erst in einigen Stunden dunkel werden, deshalb würden die Lichter in der Wohnung nicht so bald angehen. Das war schade, denn nur zu gerne hätte er gewusst, was an diesem Abend zwischen Marcy und Ron passierte. Nachdem es dunkel geworden war, war die beste Zeit, um zu beobachten, wie sich Marcy und ihr Mann hinter den Scheiben bewegten. Wenn – falls sie einen Blick zum Fenster hinauswarfen – sie nur nach innen blicken konnten – in ihr eigenes Spiegelbild und das Spiegelbild ihrer Welt.
    Wenn sie ihn nicht sehen konnte, selbst wenn sie zufällig genau in seine Richtung schauten.
    Mach mich unsichtbar.
    Ein Streifenbeamter wollte ihn sprechen, und zwar ihn persönlich. Captain Egan war überrascht. Es musste schon einiges passieren, dass ein uniformierter Beamter die Befehlskette überging und sich direkt an einen Captain wandte. Wenn er sich täuschte und das, was er zu sagen hatte, nicht wirklich wichtig war, bedeutete das ziemlich großen Ärger für den Cop.
    Als er sich zufrieden in seinem getäfelten Büro umsah, dachte er, dass es wirklich einiges an Mut erforderte, wenn ein einfacher Streifenbeamter ihn behelligte. An den Wänden hingen gerahmte Fotos von Egan, auf denen er mit verschiedenen NYPD -Eliten oder hohen New Yorker Politikern bei irgendwelchen Banketten und Feiern posierte. Zwischen den beruflichen Fotos und Auszeichnungen hingen ein paar Aufnahmen, die Egan mit Leuten aus dem Showbusiness zeigten, wie zum

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