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Opferschrei

Opferschrei

Titel: Opferschrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lutz
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entdeckte Lars einen Typen, den er kannte, ein riesiger schwarzer Kerl mit Dreadlocks, der aussah wie ein Footballspieler, der seinen Sport gegen Reggae eingetauscht hatte. Er war größer als Lars, aber nicht ganz so kräftig. Das angenehme Leben hatte ihn verletzlich gemacht. Er sprach mit einer Frau, deren glattes blondes Haar ihr fast bis zum Po reichte. Der Typ hieß Handy und war ein Dealer.
    Die Frau sagte irgendetwas von Pfannkuchen, dann verschwand sie mit wackelndem Hintern und schwingenden Haaren im Restaurant. Handy blieb draußen. Er lehnte sich an die Backsteinmauer und rauchte seine Zigarette, als ob es eine Kunst wäre.
    »Handy«, sagte Lars, als er noch ungefähr fünf Meter entfernt war; er wollte nicht, dass der Dealer ihn übersah und der Frau nach drinnen folgte. »Erinnerst du dich an mich, mein Freund?«
    Handy schnippte seine Kippe weg und schenkte Lars ein strahlendes Lächeln. »Ich erinnere mich an dein Geld.«
    »Ich würde euch gerne noch einmal miteinander bekanntmachen«, sagte Lars und vergaß Claire Briggs völlig.
    Zumindest für den Moment.

19
    Hiram, Missouri, 1989.
    »Er ist sechszehn«, sagte Milford Sand, »ein Alter, in dem er verdammt gut arbeiten und für das, was er uns kostet, selbst aufkommen kann. Herrgott nochmal, ich war …«
    »Ich weiß«, unterbrach ihn seine Frau Cara, »du hast mit vierzehn angefangen, in der Miene zu arbeiten. Dieser Junge, Luther, ist der einzige Überlebende eines Hausbrandes, der seine Pflegefamilie in Missouri ausgelöscht hat. Und dann hat er es geschafft, fast ein Jahr auf den Straßen von Kansas City zu überleben.«
    »Er ist kein Unschuldsengel.«
    »Deshalb brauchen sein Körper und seine Seele Zeit, um zu heilen, Milford. Hab doch ein wenig Mitgefühl mit ihm.«
    Milford schnaubte und rammte seine Arme so energisch in die Ärmel seiner Anzugsjacke, dass die Nähte krachten. »Er kann seine Seele heilen, während er mit seinem Körper arbeitet.«
    Milford Sand war dreiundfünfzig, fast zwanzig Jahre älter als seine Frau, aber er sah aus, als wäre er Ende sechzig. Sein schmaler Rücken war gebeugt vom jahrelangen Sitzen an seinem Schreibtisch in der Bleimine von Hiram, wo er als Buchhalter arbeitete, und sein Gesicht war bleich und abgehärmt. Seine billige Kaufhaus-Brille, die zu klein für ihn war, verlieh ihm einen leichten Silberblick. Milford wachte über das Haushaltsgeld auf die gleiche Art, wie er über die Ausgaben der Mine wachte, und es gab keinen Grund, Geld beim Optiker auszugeben, wenn die Brillen im Regal bei Drexel’s denselben Zweck erfüllten.
    Er betrachtete sein dünner werdendes braunes Haar, seine müden blauen Augen und seinen verkniffenen Mund, während er seinen Krawattenknoten im Spiegel der Frisierkommode zurechtrückte. Er hatte einmal zufällig gehört, wie jemand in der Mine gesagt hatte, sein normaler Gesichtsausdruck sei der eines Mannes, der kurz davor war, zu spucken. Milford fühlte sich nicht beleidigt; die Bemerkung traf es ziemlich gut. »Das Jugendamt sagt, dass dieser Junge – Luther – Erfahrung als Anstreicher gesammelt hat. Ich werde Tom Wilde fragen, ob er ihn als Lehrling nimmt.«
    »Ich weiß nicht …«
    »Du hast recht«, unterbrach Milford sie in einem müden, nachsichtigen Ton. »Du weißt es nicht, und es gibt keinen Grund, warum du dich um diese Angelegenheit kümmern solltest. Sorg einfach dafür, dass der Kerl sich hier wohlfühlt; ich kümmere mich um seine Anstellung diesen Sommer, damit er für seinen Unterhalt aufkommen kann.«
    »Vielleicht sollte er lieber Sommerkurse belegen, er ist schon jetzt zwei Klassen hinterher.«
    »Vielleicht ist er auch einfach nicht in der Lage, die Aufgaben zu bewältigen, und sollte ein Handwerk erlernen.«
    »Milford …«
    »Ich muss ins Büro.« Er schnappte sich seine schwere braune Aktentasche, die neben der Kommode auf dem Boden stand – eine behände und kraftvolle Bewegung für einen so zerbrechlich wirkenden Mann –, und ging zur Tür. Dann blieb er stehen. »Um wie viel Uhr bringt das Jugendamt den Jungen?«
    »Heute Mittag um eins. Versuch heimzukommen, wenn es irgendwie möglich ist.«
    »Ich werde mit den Leuten in der Mine sprechen.« Er rang sich ein säuerliches Lächeln ab und eilte aus dem Raum. Ein paar Sekunden später hörte sie, wie die Haustür ins Schloss fiel, gefolgt von seinen dumpfen Schritte auf der Holzveranda. Schließlich sprang der Wagen in der Garage stotternd an, bevor die Reifen auf der Kiesauffahrt

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