Opferschrei
sein Beuteschema, wie die unglaublich unfähigen Polizei-Profiler sagen würden.
Warum ruft sie dann nachts so laut nach mir?
Er sollte sie nochmal genauer unter die Lupe nehmen. Ja, das sollte er wirklich.
Der Kellner kam vorbei und der Night Prowler deutete auf das halbgegessene Croissant.
»Ich hätte gerne noch eins. Sie sind köstlich.«
Warum ruft sie nur so laut …?
18
Am Tag, an dem Raoul Caruso beerdigt wurde, hatte es den ganzen Morgen über leicht, aber anhaltend geregnet. Doch als die Trauergäste bei Annas Vaters schlichtem Holzhaus ankamen, schien die Sonne. Das Essen – Ravioli, Salat und Schoko-Cookies – hatte eine Nachbarin zubereitet, die gut mit Annas Vater befreundet gewesen war.
Anna betrachtete die Frau, eine dunkeläugige, einstmals gut aussehende Witwe, die ziemlich kräftig, aber immer noch attraktiv war. Sie fragte sich, ob ihr Vater und seine Nachbarin eine Affäre gehabt hatten. Die Frau, die Lilitta hieß, war sichtlich aufgewühlt gewesen bei der Beerdigung.
Raouls Arbeitgeber, ein dunkelhäutiger Mann namens Stick, der selbst in seinem teuren Anzug billig und verrucht aussah, hatte bei der Beerdigung neben ihr gestanden, war aber danach nicht mit zum Haus gefahren. Annas Onkel Dale, der Bruder ihres Vaters und Melbas Vater, die sie nur ein halbes Dutzend Mal getroffen hatte, war mit zum Haus gekommen. Er saß am Rand des Sofas mit einem Pappteller voller Ravioli auf den Knien und hörte einer Anna unbekannten Frau zu, die neben ihm saß. Die fünfzehnjährige Melba hatte die Beerdigung ziemlich mitgenommen. Sie hatte sich in einem Sessel zusammengerollt und sah so aus, als ob sie gleich wieder weinen und ihre Augen noch roter und geschwollener machen würde.
Die Augen von Annas Mutter waren fast genauso rot wie die von Melba. Sie kam zu Dale und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dale nickte, stellte seinen Teller auf ein Beistelltischchen und stand auf. Anna sah, wie die beiden die Treppe zum oberen Stockwerk hinaufstiegen. Lilitta, die drüben bei der großen, stählernen Kaffeemaschine stand, sah sie auch. Sie stellte ihren Styroporbecher ab und folgte ihnen.
Anna zögerte, dann ging sie Lilitta nach. Während sie die Treppe hinaufstieg, warf sie einen Blick über ihre Schulter und sah, das Melba sie nicht bemerkt hatte. Sie saß mit hängendem Kopf und geschlossenen Augen da und zupfte an einem Pickel an ihrem Kinn.
Oben angekommen, hörte sie Stimmen aus einer offenen Tür am Ende des Flurs und ging darauf zu.
Das Schlafzimmer ihres Vaters.
Die drei standen am Fußende des Betts und sprachen ruhig miteinander, doch Lilitta sah aus, als müsse sie sich anstrengen, ihren Ärger wie auch ihre Trauer zurückzuhalten. Anna betrachtete das Bett, dann warf sie einen Blick auf Lilitta und fragte sich, ob …
»Es ist nicht leicht, aber wir müssen es tun«, sagte Dale. »Wir sind seine Familie, und nach dem, was Raoul mir erzählt hat« – er blickte Lilitta an –, »gehören Sie so gut wie dazu.«
Annas Mutter sah sie und winkte sie herein.
»Wir werden die Sachen deines Vaters durchgehen«, sagte sie, »um zu sehen, ob irgendwas dabei ist, was wir als Erinnerung an ihn behalten wollen. Das solltest du auch tun, Anna. Es ist sein Nachlass.«
Anna fragte sich, ob die drei tatsächlich so sentimental waren oder eher nach wertvollen Dingen suchten. Doch so oder so konnte sie sie nicht aufhalten, also beschloss sie, mitzuspielen.
Vorsichtig und schuldbewusst – als ob ihr Vater noch immer da wäre – fingen sie an, die Schubladen zu öffnen. Dale ging zum Schrank und machte die Tür auf, die verzogen war und klemmte. Er war ungefähr so groß wie sein verstorbener Bruder und fing an, Kleider auszuwählen: ein Hemd, zwei Hosen, ein Jackett.
»Ist es nicht ein bisschen zu früh dafür?«, fragte Anna.
Lilitta lächelte sie an.
»Wir müssen realistisch sein«, sagte Annas Mutter und blickte von der Schublade auf, die sie gerade durchwühlte. Sie warf einen Blick auf Dale.
Anna verstand. Ihre Mutter fürchtete, dass Dale, wenn er die Chance dazu hatte, ins Haus zurückkommen und sich alles unter den Nagel reißen würde, was halbwegs wertvoll war.
Dale schien nichts zu bemerken. Er hielt das Jackett hoch und untersuchte es auf Löcher oder Mottenspuren.
Annas Mutter nahm eine Holzkiste aus einer der Schubladen und legte sie neben die zusammengefalteten Hosen aufs Bett. Sie öffnete den Deckel und fing an, Schmuck auf der gewebten weißen Tagesdecke auszubreiten.
Anna
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