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Opferschrei

Opferschrei

Titel: Opferschrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lutz
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knirschten. Morgengeräusche. So fing jeder von Caras langen Tagen an: sie hörte zu, wie Milford zur Mine losfuhr.
    Die Mine. Alles, was er im Kopf hatte, war die Mine, seine Arbeit, Zahlen und Blei. Gewinn und Verlust, diese Zahlenfolge oder jene. Cara dachte, dass das Blei in der Luft vielleicht die ganze Stadt vergiftete.
    Ganz sicher aber vergiftete es ihre Ehe.
    Luther war überrascht, als er das Haus an diesem Samstagnachmittag sah. Er hatte etwas Kleineres erwartet. Das hier war ein cremefarbenes Monster mit grauen Zierleisten, einer überdachten Veranda und einem steilen Ziegeldach mit vielen Dachfenstern. Es sah aus wie das Haus, das Luther auf Bildern von Hänsel und Gretel gesehen hatte – nur viel, viel größer. Es gab ein paar ähnliche Häuser in der breiten, von Bäumen gesäumten Straße, doch dieses hier war größer und in einem besseren Zustand als die anderen, auch wenn es genauso alt war. Der Garten um das Haus war groß und eben. Zur Straße hin wurde er von einer niedrigen Steinmauer begrenzt, und es gab viele Büsche und Bäume. Eine lange Kiesauffahrt führte zu einer Garage im hinteren Teil des Hofs, die jünger aussah als das Haus.
    Es war warm, als er und die Frau vom Jugendamt aus dem klimatisierten Wagen stiegen. Im Garten war es schattig, und zwanzig oder dreißig geschäftige Spatzen pickten eifrig auf dem grünen Rasen herum. Sie suchten alle das Weite, als Luther die Autotür zuschlug. Er hievte sich seinen unförmigen Seesack auf die Schulter und ging um das Auto herum auf die breiten Holzstufen der Veranda zu.
    Auf der überdachten Veranda standen Töpfe mit Kletterpflanzen und ein Schaukelstuhl. »Sieht aus, als würde der verdammte Norman Rockwell hier wohnen«, hörte Luther die Frau vor sich hin murmeln. Sie war schlank, hatte glänzendes blondes Haar und sah besser aus als die meisten Mitarbeiterinnen des Jugendamts. Luther wusste, dass sie stocksauer wäre, wenn sie wüsste, wie genau er sie beobachtet hatte.
    Ihre Schritte klangen laut auf dem Dielenboden, und die Haustüre öffnete sich, bevor die Frau auf den Klingelknopf gedrückt hatte.
    Drinnen stellte sie sich Mr und Mrs Sand als Helen Simpson vor, was gut war, denn Luther hatte ihren Namen irgendwo auf der Interstate 40 vergessen. Er hörte zu, während sie die Formalitäten abwickelte – eine Routine, die ihr in Fleisch und Blut übergegangen war. Sie wusste genau, an welchen Stellen sie lächeln oder Luther die Schulter tätscheln musste. Dann verließ sie das Haus und ging die Auffahrt entlang zu ihrem staubigen weißen Dienstwagen. Pflicht erfüllt.
    Drinnen saß der sechzehnjährige Luther Lunt mit seinen neuen Pflegeeltern. Sie hörten zu, wie der Kies knirschte, als Helen Simpson aus der Einfahrt fuhr. Dann war es still in dem großen viktorianischen Haus mit den drei Stockwerken, das Milford Sand und seine Frau zusammen renoviert hatten.
    Luther würde das einzige Pflegekind sein, was ihm gut gefiel. Und vom ersten Augenblick an mochte er die Frau, Cara. Sie war schon ziemlich alt – vielleicht Mitte dreißig –, aber noch immer hübsch, mit ihrem lockigen dunklen Haar und ihren braunen Augen. Sie hatte ein ovales Gesicht, das aussah, als gehöre es in eines dieser herzförmigen Medaillons, die man öffnete musste, um das Foto zu sehen. Und das Lächeln, das sie Luther schenkte, schien ehrlich gemeint.
    Ihr Mann, Luthers neuer vorübergehender Vater, benahm sich dagegen, als hätte er einen Stock im Arsch. Während er auf den Straßen von Kansas City als Strichjunge gearbeitet hatte, hatte Luther diese Art von kleinen Wieseln kennengelernt. Vielleicht würde er die Frau brauchen, um sich vor Mr Sand zu schützen. Ihr Anblick sagte ihm, dass sie nicht wie Mrs Black war.
    Cara – Mrs Sand – lächelte ihn an. »Hättest du gern ein Glas Limonade, Luther?«
    Showtime. »Das hätte ich sehr gern, Mrs Sand.«
    Sie stand vom Sofa auf, wo sie neben ihrem Mann gesessen hatte. Für einen Moment sah sie so aus, als ob sie gleich weinen würde. »Ich erwarte nicht, dass du mich Mutter nennst, Luther, aber Cara wäre nett.«
    Auch Milford stand auf. Er beugte sich vor und wischte sich nicht vorhandene Fusseln oder Staub von seiner Hose. »Ich würde gerne bleiben, aber ich muss zur Mine.«
    »Mine?«, fragte Luther.
    »Die Bleimine von Hiram, wo ich als Leiter der Buchhaltung arbeite.«
    »Hört sich gut an«, sagte Luther.
    Milford nickte ernst. »Es ist gut.« Er gab Cara einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

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