Opferschuld
fragte die junge Frau. «Ich kann ihm was ausrichten.»
«Nein danke. Ich bin eine alte Freundin. Ich versuch’s ein andermal.»
Als Nächstes fuhr sie zur Polizeidirektion in Crill. Beschwingt schneite sie in Holness’ Büro. «Kann ich mir einen Ihrer Leute ausborgen? Für ein paar Nachforschungen?»
Er sah von einem mit Unterlagen überhäuften Schreibtisch auf. Schlimmer als ihr eigener, wie sie befriedigt feststellte. «Ist es dringend?» Er wollte Neuigkeiten über die Ermittlungen im Fall Mantel herauskriegen. Nun, von ihr würde er nichts erfahren.
«Es dauert nicht lange. Ein paar Anrufe, ein bisschen herumschnüffeln.»
«Da muss ich schon mehr wissen, bevor ich jemanden freistelle», sagte er.
«Dann lassen Sie’s gut sein, ich mache es allein.» Sie strahlte ihn an, und er wusste nicht, was er darauf sagen sollte.
Sie spazierte in die Einsatzzentrale und winkte dem Polizisten zu, der am nächsten Computer saß. Er starrte sie bloß an. «Kümmern Sie sich nicht um mich, Herzchen. Sie werden gar nicht merken, dass ich da bin.»
Sie suchte sich einen freien Schreibtisch und ein Telefon und begann, unzählige fruchtlose Gespräche mit den Herstellern von Damenunterwäsche zu führen. Dabei spitzte sie die Ohren, um mitzubekommen, wie es im Winter-Fall voranging. So wie es sich anhörte, hatten sie kaum Anhaltspunkte. Immer noch versuchten sie, Einzelheiten über Christophers Handy herauszubekommen, aber er hatte es nicht registrieren lassen, und in Aberdeen konnten sie niemanden auftreiben, der die Nummer besaß. Emma oder seinen Eltern hatte er die Nummer nicht gegeben, was Vera reichlich seltsam fand. Nach einer Stunde wurde ihr langweilig, und sie beschloss, Holness noch den letzten Nerv zu rauben. Sie lehnte sich in den Türrahmen und schaute in sein Büro.
«Ist bei der Durchsuchung des Gehöfts beim Friedhof irgendwas herausgekommen?»
«Der Bursche war da», sagte Holness. «An der Stalltür war ein Fingerabdruck.»
«Haben Sie irgendwas gefunden, was darauf hindeutet, dass er sich mit jemandem getroffen hat?»
«Noch ein paar weitere Abdrücke, die zu einer anderen Person gehören. Niemandem, der uns bekannt ist. Könnten nützlich werden, wenn wir es jemals schaffen sollten, einen Verdächtigen einzukassieren.»
«Und den Tag über hat ihn niemand gesehen?»
«Wir glauben, dass er sich auf dem Hof versteckt hat, bis es dunkel wurde. Ansonsten hätte man ihn bemerkt. In Elvet sind die Leute nun mal neugierig.»
Am Nachmittag hielt sie es nicht mehr aus und rief Ashworth an. Sie hatte die ganze Zeit über an ihn gedacht. Offensichtlich konnte er nicht sprechen, weil jemand mithörte, aber er klang sehr mit sich zufrieden, und sie wünschte sich, sie hätte die Sache selbst erledigt. Alle glaubten immer, dass man, wenn man delegierte, den ganzen Mist auf andere abwälzte, aber den Bogen hatte sie offenbar noch nicht heraus. Der Mist blieb meistens an ihr hängen. Sie ging zurück ins Hotel, nahm ein ausgiebiges Bad und versuchte, ihre Ungeduld in den Griff zu bekommen.
Gegen halb neun klingelte ihr Telefon, und sie schnappte nach dem Hörer auf dem Nachttisch, weil sie Joe Ashworth mit Neuigkeiten erwartete. Es war Paul Holness, und in ihrer Enttäuschung hörte sie nicht richtig hin und fragte sich, was Joe bloß zugestoßen sein konnte.
«Tut mir leid», sagte sie. «Die Verbindung ist furchtbar. Könnten Sie das bitte wiederholen?»
«Gerade hat uns Veronica Lee angerufen, die Wirtin vom
Anchor
. Offenbar hat Michael Long dort so etwas wie eine Szene gemacht. Sie sagt, dass er ziemlich mit den Nerven runter ist. Er will mit Ihnen sprechen. Wenn Sie möchten, schicken wir einen von unseren Jungs, aber ich dachte, vielleicht wollen Sie selbst hin. Das ist Jeanies Vater, oder? Hat ja nicht wirklich was mit uns zu tun.»
«Ja», sagte sie. «Wahrscheinlich ist es am besten, wenn ich das übernehme. Mich kennt er.» Was war sie nur für eine traurige alte Schachtel, dachte Vera, wenn ein Anruf wie dieser sie wieder zum Leben erwecken konnte.
Sie parkte auf dem Platz, und ihr fiel auf, dass in der Alten Schmiede Licht brannte. Sie zögerte kurz, war versucht, erst dort hineinzugehen und mit Dan zu reden. Aber das kann warten, dachte sie. Er wird das Dorf heute Nacht ja nicht noch einmal verlassen. Am besten sah sie erst einmal nach, was mit Michael los war. Als sie in den
Anchor
trat, deutete nichts darauf hin, dass sich dort ein Drama abgespielt hätte. Ein halbes Dutzend
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