Opferschuld
so eine Geschichte. Noch mehr Erklärungen. Natürlich war Emma nach Springhead House gekommen, um den Kleinen zu holen, nicht, um mit ihren Eltern zu reden. Denen hatte sie sich doch noch nie anvertraut.
Vera stand im Hof und schaute in die Küche. Über ihr wölbte sich der gewaltige Winterhimmel, von dem einem schwindelig werden konnte, und vor ihr spielte sich ein kleines Familiendrama ab, eine Seifenoper. Und genau dazwischen stand sie. Selbst wenn ihr Schatten in der Dunkelheit zu sehen wäre, dachte Vera, würde es den Winters wohl nicht auffallen. Sie waren ganz in ihr Gespräch vertieft, und Vera hörte alles, was gesagt wurde. Zu Doppelfenstern hatte es in Springhead House bis heute nicht gereicht.
Gerade sprach Mary. «Ich verstehe das nicht», sagte sie. «Wieso sollte James so etwas tun?»
«Ich verstehe es ja auch nicht. Er hat mich angelogen. Was willst du denn sonst noch wissen? Wenn Mr Long seine Vergangenheit nicht ausgegraben hätte – er selbst hätte es mir wahrscheinlich nie erzählt.»
«Solltest du nicht besser mit ihm reden?»
«Vielleicht hat er ja gelogen, weil er Abigail umgebracht hat. Das will ich nicht wissen.»
«Das ist doch lächerlich», sagte Mary. «James hat seinen Namen geändert. Das macht ihn nicht zu einem anderen Menschen. Er hat ja nicht bei irgendwas Wichtigem gelogen. Und du hast ihn geheiratet, hast sein Kind bekommen. Du kannst dich jetzt nicht einfach so davonmachen und weglaufen.» Sie umklammerte die riesige Patchworktasche auf ihrem Schoß, als wäre sie ein Baby, das ihr gehörte.
«Und wieso nicht? Hat er nicht genau dasselbe getan? Ihm hat nicht gefallen, wer er war, also ist er weggelaufen.»
«Du solltest ihn anrufen», sagte Robert. «Er macht sich bestimmt Sorgen.»
«Gut so.» Emma hätte wieder fünfzehn sein können, aufsässig und fest entschlossen, ihren Willen durchzusetzen. Genau den Gesichtsausdruck musste sie gehabt haben, als sie loslief, um Abigail in der Alten Kapelle zu besuchen, und ihrem Zorn im Kampf gegen den Wind Luft machte. «Ich hoffe, er kommt fast um vor Sorge.»
Vera trat vom Fenster zurück und klopfte an die Tür. Nicht zu laut. So blank, wie die Nerven der drei lagen, würden sie sonst noch alle einen Herzanfall bekommen. Wahrscheinlich würden sie denken, es sei James. Sie stellte sich vor, wie sie von einem zum anderen blickten und versuchten, sich zu einigen, wer aufmachen sollte. Schließlich öffnete Emma die Tür.
Das haben bestimmt die Eltern so gewollt,
dachte Vera.
Sie haben immer gewusst, was am besten für sie war, und sich immer durchgesetzt.
Die junge Frau stand in der Tür, das Baby noch auf dem Arm, und funkelte sie wütend an.
«Ich kann einfach nicht glauben, dass James Sie in der Sache eingeschaltet hat», sagte Emma. «Das geht die Polizei nichts an. Es hat nichts mit Ihrer Arbeit zu tun.»
«Er macht sich große Sorgen», sagte Vera freundlich. «Es tut niemandem weh, wenn Sie ihn wissen lassen, dass Sie in Sicherheit sind. Dürfen wir bitte hereinkommen?»
«Was wollen Sie denn von uns, mitten in der Nacht?»
«Wir haben noch ein paar Fragen. Wo Sie doch sowieso noch alle wach sind.»
Plötzlich schien Emma der Kampfgeist zu verlassen, und sie wurde wieder ganz teilnahmslos, bleich und mädchenhaft. Sie trat beiseite, um die beiden hereinzulassen. Warum macht sie das bloß?, dachte Vera. Warum verwandelt sie sich jedes Mal, wenn es Ärger gibt, in ein Kind? Ihr Kleines-Mädchen-Gesicht. Die großen, traurigen Augen. Macht siedas mit Absicht? Glaubt sie, das hält ihr die Probleme vom Leib? Bringt Dan Greenwood dazu, sie zu lieben?
«Wie sind Sie eigentlich hierhergekommen?», fragte Vera. Wie immer, wenn sie Emma so sah, hätte sie ihr am liebsten eine gescheuert, und die Frage kam grob heraus.
«Jemand hat mich mitgenommen.»
«Und wo ist er jetzt?»
«Wer?» Doch da wurde Emma schon rot. Es fing am Hals und bei den Ohren an und stieg dann ihr Gesicht hoch.
«Dan Greenwood. Sie sind zu ihm gegangen, und er hat Sie hergefahren. Spielen Sie nicht die Ahnungslose. Wenn ich Sie was frage, dann, weil ich die Information brauche.»
«Ich weiß nicht, wo er jetzt ist.» Emma schien den Tränen nahe. Vera konnte Ashworth hinter sich spüren, der sich mit seiner Ritterlichkeit gern zum Narren machte. Jeden Augenblick würde er der Kleinen sein Taschentuch anbieten. Er fiel auf jedes hübsche Gesicht und jede rührselige Geschichte herein. Sie ging in die Küche, wo die Winters noch genauso
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