Opferschuld
verfolgt, vor der Schule auf sie gewartet. Ist richtig lästig geworden.» Ashworth hielt inne. «Woher wussten Sie das nur?»
«Ich wusste es nicht. Nicht sicher zumindest. Aber irgendwas musste passiert sein, weshalb sie ihr Leben so dramatisch geändert haben.» Außerdem hat er etwas an sich, das meine Haut kribbeln lässt. Und der Psychiater hat gesagt, jemand mit genügend Selbstbeherrschung könnte damit davonkommen.
«Weshalb er sich Gott zugewandt hat?»
«Ja, genau.» Sie deutete mit dem Kinn auf das Haus. «Was geht da drinnen vor?»
«Keine Ahnung. Seit ich hier bin, ist alles ruhig.»
«Und Emma Bennett ist nicht vorbeigekommen?»
«Nein, aber ich bin ja auch noch nicht lange da.»
«Sie hat sich mit ihrem Mann gestritten und ist verschwunden.» Vera erzählte von Michael Long und der Sache im
Anchor
. «Es ist wahrscheinlich nichts, aber ich habe ein scheußliches Gefühl dabei.»
«Das wird nichts zu bedeuten haben.» Er sah sie an, unbesorgt. Er glaubte ganz genau zu wissen, wer Abigail und Christopher umgebracht hatte. Sie antwortete nicht gleich. Jetzt, wo es darauf ankam, wurde sie unsicher.
«Wahrscheinlich nicht.»
«Wie wollen Sie vorgehen?», sagte er. «Wir können bis zum Morgen warten und einen Durchsuchungsbeschluss erwirken. Das Handy von dem Jungen ist immer noch nicht aufgetaucht. Wenn es dadrinnen ist, haben wir was Brauchbares.»
Vera wusste, dass sie es nicht aushalten würde, bis zum nächsten Morgen zu warten. Sie fand diesen Fall abscheulich. Sie fand die ganze Heuchelei abscheulich, die nicht zu Ende gebrachte Trauer, die grauenhafte, platte Landschaft. Sie wollte nach Hause. Außerdem sollten sie an Emma und den Kleinen denken.
«Warum gehen wir nicht einfach rein?»
«Jetzt?»
«Wieso nicht? Ein paar inoffizielle Fragen. Und wir haben eine Entschuldigung. Wir suchen Emma.»
«Was, wenn wir ihn damit verscheuchen?»
«Das glaube ich kaum. Sie etwa?»
Ashworth dachte einen Augenblick nach. «Nein», sagte er. «So jemand will erwischt werden.»
Vera glaubte zwar nicht, dass Joe die Sache damit richtig einschätzte, aber sie würde ihn vielleicht noch dazu bringen müssen, ein paar Regeln zu beugen, deshalb sagte sie lieber nichts.
Ashworth griff nach dem Schlüssel, um das Auto anzulassen, doch sie hielt ihn davon ab.
«Wir gehen zu Fuß. Ich will sie nicht vorwarnen.»
Und sie konnte noch etwas Zeit gebrauchen, um die Puzzleteile zusammenzusetzen. Oder vielmehr, um ihr seelisches Gleichgewicht wiederzufinden. Den Glauben, dass sie dem Job gewachsen war. Und um den Augenblick der Panik zu vergessen, der sie vor dem Captain’s House befallen hatte.
Sie gingen den schnurgeraden Zufahrtsweg entlang, und ihre Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, sodass sie Joe Ashworths Taschenlampe nach einer Weile nicht mehr brauchten. Es war eine klare Nacht. Gut möglich, dass es später noch frieren würde, wie in der Nacht, in der Christopher umgebracht worden war. Ob Robert und Mary wohl nach draußen in den Himmel schauten und sich erinnerten? Die Autos auf der Hauptstraße und der Mond spendeten genug Licht. Zu ihrer Rechten wurde die Küste von dem roten Leuchten des Lotsensignals markiert, und direkt vor sich sahen sie zwei orange Vierecke, eins über dem anderen. Ein Fenster im Erdgeschoss und eins im ersten Stock des hässlichen, kantigen Hauses. Auch eine Art Leuchtfeuer.
Die Vorhänge des Küchenfensters waren nicht zugezogen, und Vera blieb stehen, drückte sich an die Außenmauer, damit sie von innen nicht gesehen werden konnte, und spähte hinein. Robert und Mary saßen am Küchentisch. Mary stand gerade auf, nahm einen Topf Milch vom Herd und goss sie in Becher. Vera sah nur zwei Becher. Der Anflug von Panik kehrte zurück. Wo war Emma? Aus dem Nebenzimmer kam ein Geräusch, ein Brüllen.
Dann trat Emma in die Küche, und Vera spürte, wie ihr Puls sich beruhigte. Emma trug das schreiende Baby auf dem Arm, ihre Augen waren vom Weinen gerötet. Mary bot an, ihr Matthew abzunehmen, aber sie klammerte sich an ihm fest. Sie ging auf und ab und rieb ihm über den Rücken, bis das Schreien nachließ, dann setzte sie sich an den Tisch. Sofort fing Robert an, auf sie einzureden.
Dieses ganze Gerede, dachte Vera. Alle sitzen immer nur herum und erzählen Geschichten, um sich zu rechtfertigen oder die Schuld auf andere abzuwälzen. Sie fragte sich, was wohl passiert war. War Emma überhaupt in der Töpfereigewesen? Vielleicht hatte Dan sie hierhergefahren. Noch
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