Opferschuld
Zeitung.» Es wollte ihr einfach nicht einleuchten.
«Deshalb bin ich hergekommen», sagte er. «Aber es ist schon lange vorher wieder losgegangen. Da war der Artikel im
Guardian
. Es kommt mir vor, als hätten die Leute wochenlang über sie geredet.»
«Mir war nicht klar, dass sie dir irgendwas bedeutet hat.»
Sie dachte an den Abend, nachdem sie Abigails Leiche gefunden hatte, wie sie beide aus seinem Schlafzimmerfenster auf die Bahrenträger dort im Mondlicht geschaut hatten. Er war damals doch ganz ruhig geblieben – oder etwa nicht? Hatte ihre eigene Rolle in diesem Drama sie so in Anspruch genommen, dass ihr weiter nichts aufgefallen war?
«Sie hat mir alles bedeutet», sagte er. «Damals.»
«Aber du warst doch noch so jung.»
«Vierzehn», sagte er. «Und ich hatte schon immer die Neigung, mich völlig in etwas zu verrennen.»
«Du kannst unmöglich etwas mit ihr gehabt haben!» Abigail hatte sich ja schon für zu vornehm für die Jungs in ihrem eigenen Jahrgang gehalten. Ganz bestimmt hätte sie sich nie dazu herabgelassen, mit jemandem wie Chris auszugehen.
«Nein», sagte er. «Nichts dergleichen.»
«Was dann?»
«Ich bin ihr gefolgt. Überall, wo sie hingegangen ist. Den ganzen Sommer lang.» Er stierte in sein Glas. «Das hat angefangen, als wir ihr auf der Landspitze begegnet sind. Als du das erste Mal mit ihr gesprochen hast. Wir waren gerade hergezogen. Dad hat uns zu einem Fahrradausflug mitgeschleift. Erinnerst du dich?»
«Wir haben Eis gegessen.»
«Ja!» Er schrie beinahe. «Genau!»
«Und Abigail ist mit ihrem Vater im Auto gekommen und ausgestiegen, um sich vorzustellen.»
«Da hat es angefangen. Danach konnte ich nicht mehr aufhören, an sie zu denken. Ganz buchstäblich. Wenn ich aufwachte, habe ich an sie gedacht, den ganzen Tag über war sie da, spukte in meinem Hinterkopf herum, und nachts träumte ich von ihr.»
«Sie war dein Sommerprojekt.» Seine Heftigkeit machte ihr Angst, und sie hoffte, ihn mit einer Neckerei da herauszuholen, aber er antwortete ihr ganz ernsthaft.
«Nein. Projekte sind etwas Intellektuelles. Abigail war viel mehr. Ich kann es immer noch nicht erklären, und ich erwarte auch nicht, dass du es verstehst. Schau dich doch an. Verheiratet, Mutter, zu vernünftig, um zu träumen.»
«Die Ehe hält einen nicht davon ab zu träumen», sagte sie, aber ganz leise, und überhaupt hörte er ihr gar nicht zu. Plötzlich dachte sie: Wenn Abigail mich das hätte sagen hören, dann hätte sie so getan, als müsste sie kotzen. Sowas Abgedroschenes. So was Berechenbares. Zum ersten Mal seit Jahren vermisste sie Abigail, die ihr trotz all der bösen Ahnungen, die später aufgekommen waren, eine echte Freundin gewesen war.
Er fuhr fort. «Weißt du, es hat nie aufgehört. Ich glaube, wenn sie nicht ums Leben gekommen wäre, dann hätte ich mich weiterentwickelt und wäre über sie hinweggekommen. Aber so wie die Dinge liegen, werde ich es wohl nie los. Es bleibt eine Leidenschaft, die ich nicht befriedigen kann. Ein Traum, den ich nicht wahr werden lassen kann.» Er versuchte zu lächeln. «Verrückt, was?»
Er griff nach der Weinflasche. Sie sah, dass seine Hand zitterte. «Weißt du eigentlich, dass ich noch nie eine Freundin hatte?», fragte er. «Keine richtige. Gelegentlich mal einen verkrampften One-Night-Stand. Meistens, wenn ich betrunken bin. Und meistens mit einer Rothaarigen. Mehr nicht.»
Emma sagte nichts. Sie sah ihn über den Tisch hinweg an, unsicher, was sie davon halten sollte. Christopher hatte noch nie so mit ihr gesprochen. Er hatte überhaupt noch nie etwas Wichtiges mit ihr besprochen. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie ihm glauben sollte.
«Das war mir alles nicht klar», sagte sie schließlich. «Warum erzählst du mir das jetzt?»
«Weil ich mit irgendwem reden muss. Ich glaube, ich werde noch verrückt. Ich weiß einfach nicht mehr, was stimmt und was nicht.»
«Das ist wirklich verrückt», sagte Emma. «Du musst loslassen.»
«Hast du’s denn?»
«Was meinst du damit?»
«Du klammerst dich doch auch an irgendwas. Woran bloß? Schuldgefühle? Du hast Abigail nie so richtig leidenkönnen, stimmt’s? Es war bestimmt ein Schock für dich, aber ich glaube nicht, dass du groß um sie getrauert hast.»
«Sie war meine beste Freundin.»
«Nein», sagte er. «Sie war deine einzige Freundin. Alles, was du hattest. Und das hat sie dich auch immer spüren lassen. Sie hat dich immer spüren lassen, wie viel du ihr verdankst.» Er
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