Opferschuld
sah ihr einen Moment lang fest in die Augen. «Ich habe immer gedacht» – er stockte kurz –, «dass du sie tief im Inneren gehasst hast.»
«Aber nein», sagte sie, doch das Bild, das sie eben noch vor Augen gesehen hatte, von Abigail, die Grimassen schnitt, von ihnen beiden, wie sie zusammen lachten, war schon verblasst.
Kapitel fünfzehn
Emma ließ Chris, der trübsinnig in sein Weinglas starrte, allein am Tisch sitzen. Er schwieg und reagierte nicht mehr, und als sie ihm gute Nacht sagte, schien er sie gar nicht zu hören. Langsam ging sie die Treppe hoch, sie wollte nicht weiter in ihn dringen, war aber auch noch nicht müde genug, um zu schlafen.
Am Vortag hatten sie das Babybett in Matthews Zimmer gestellt, das James schon während ihrer Schwangerschaft eingerichtet hatte. Es war ein Beweis seiner Liebe, denn die Farben, die sie ausgesucht hatte, hatten ihm überhaupt nicht gefallen. Doch nach ihren Anweisungen hatte er die schäbige Tapete gelb gestrichen und ein Fries mit Wellen und Schiffen und Fischen angebracht. Von der Decke hing ein Mobile mit silbernen Sternen herab. An der geöffnetenTür blieb sie kurz stehen, um hineinzuschauen. Der Kleine lag auf dem Rücken im Bettchen, die Arme von sich gestreckt wie eine Stoffpuppe.
James schlief schon, wie sie es erwartet hatte. Sie schaute auf ihn hinunter und versuchte, noch einmal etwas von der Erregung zu empfinden, die sie zuvor verspürt hatte, aber das Gefühl war verschwunden. Sie ging im Zimmer hin und her, doch er bewegte sich nicht. Dann fing sie an, sich auszuziehen, fühlte sich aber immer noch zu aufgewühlt, um sich hinzulegen. Auf den Holzdielen des Fußbodens lag kein Teppich, sie waren abgebeizt und versiegelt, und wenn sie barfuß darauf stand, erinnerte sie das immer an den Sportunterricht in der Schulturnhalle. Eine der Lehrerinnen hatte sich für zeitgenössischen Tanz begeistert, und so hüpften sie in schwarzen Turnanzügen zu eigentümlicher elektronischer Musik durch die Halle. Ausdruckstanz. Abigail fand das Rumgehopse lächerlich und ließ das auch deutlich erkennen. Emma war hin und her gerissen. Insgeheim machte es ihr Spaß, sich so frei zu bewegen. Es war, als würde man über den Strand aufs Meer zulaufen. Das gleiche Glücksgefühl. Aber wegen Abigail musste sie auch darüber spotten.
In einem hatte Chris recht gehabt. Nach Abigails Tod war die Schule erträglicher geworden. In den paar Wochen vor den Sommerferien und in der ersten Hälfte des Herbsttrimesters hatte man sie nur als Abigails Freundin gekannt. Danach war sie selbst interessant geworden. Die Mitschüler wollten unbedingt etwas über die Mordermittlungen erfahren, und die Lehrer zeigten sich verständnisvoll. Ihre Aufmerksamkeit ließ sie aufblühen.
War es in jenem Herbst gewesen, dass sie ihre Begabung für Fremdsprachen entdeckt hatte? Sie übersetzten einen Text aus dem Deutschen ins Englische, und als sie an derReihe war, ratterte sie die Stelle einfach herunter, verstand sofort, was der Autor hatte ausdrücken wollen.
«Sehr gut, Emma», sagte die Lehrerin ganz automatisch. Nach Abigails Tod war Emma unaufhörlich gelobt worden. Als könnte das den Schock, wenn man eine Leiche fand, irgendwie verwinden helfen. Dann sagte die Lehrerin noch einmal: «Wirklich, das war sehr gut», und es klang überrascht und aufrichtig.
So war sie zu den Sprachen gekommen. Französisch und Deutsch machte sie bis zum Abschluss und nahm noch Spanisch dazu, dann Russisch im Studium. Sie war nicht herausragend. Schaffte mit Ach und Krach eine 2,1, aber das war mehr, als ihre Lehrer vorausgesehen hätten, als sie fünfzehn war. Auch ihre Eltern staunten über Emmas Erfolg, obwohl sie es nicht offen zeigten. Wie hätte sie ihnen das erklären sollen?
Es ist einfach so viel leichter, in der Sprache anderer Menschen zu sprechen. Ich fühle mich besser dabei.
Wie hätten sie das wohl aufgenommen?
Und letztlich hatte es dazu geführt, dass sie James begegnet war. Nach dem Studium nahm sie einen Job bei einer kleinen Reederei in Hull an. Warum war sie zurückgekommen? Nach drei Jahren in Exeter und einem in Frankfurt hatte sie geglaubt, dem Einfluss von Robert und Mary entkommen zu sein. Sie hätte im ganzen Land eine Arbeit gefunden, auf der ganzen Welt. Und doch landete sie, ohne sich eigentlich bewusst dafür zu entscheiden, wieder hier. Natürlich hatte sie sich auf gewisse Weise verantwortlich für ihre Mutter gefühlt. Sie wusste überhaupt nicht, wie es Mary ging,
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