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Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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wunderte sich, wie anders er sich plötzlich fühlte. Dann stieß er die Tür auf, und drinnen roch es, wie es dort immer gerochen hatte. Nach Bier und Zigarrenrauch   – Veronicas Mann Barry rauchte fette Zigarren   –, nach Holzpolitur, und aus der rückwärtig gelegenen Küche kam der Geruch nach Gebratenem, obwohl gerade niemand aß. Veronica stand hinter dem Tresen, und Barry, ein schmächtiger, dunkelblonder Mann mit Augen wie ein Fisch, saß auf einem Barhocker auf der Seite der Gäste. Er war der faulste Mann, der Michael je untergekommen war. Es ging das Gerücht, dass er an irgendeiner seltenen Krankheit litt und bald sterben würde, aber dieses Gerücht hatte Michael auch schon vor fünfzehn Jahren gehört, und Barry lebte immer noch. Immer noch goss er sich einen nach dem anderen hinter die Binde und lauschte dem Klatsch, wie ein Weib. Über der Tür hing sein Name, aber jeder wusste, dass Veronica den Pub führte.
    Veronica sah Michael zuerst. Sie schaute von dem Glas hoch, das sie gerade polierte, und lächelte ihm kurz und höflich zu, als wäre er ein Fremder, ein Tourist, der in den Pub gekommen war, um etwas zu essen. Dann merkte sie, wer er war. Einen Augenblick lang sah sie verwundert aus, schien ihren Augen nicht zu trauen.
    «Na, mein Lieber», sagte sie dann. «Einmal wie immer?»
    Die ganzen Jahre, und sie wusste es noch. So musste eine Wirtin sein. Sie trug eine weiße Bluse aus irgendeinem seidigen Stoff, durch den er das strengere Weiß ihres BHs sehen konnte. Plötzlich fiel ihm wieder ein, dass sie ihm schon immer gefallen hatte, selbst als Peg noch lebte. Genau wie ihm, auf ganz andere Weise, auch Abigail Mantel gefallen hatte. Aber darin waren sich doch alle Männer gleich, oder nicht? Es gab keinen Grund für dieses flaue Gefühl der Scham in seiner Magengrube.
    Veronica starrte ihn an. «Es war doch Theakston’s, oder?»
    «Ja, bitte», sagte er.
    Barry drehte sich auf dem Kunststoffbezug herum, als wäre die Anstrengung zu viel für ihn. Er war immer neugierig und saß für gewöhnlich halb zur Tür gewandt, um zu sehen, wer hereinkam. Als er Michael erkannte, fiel er fast von seinem Hocker.
    Michael ging langsam auf die beiden zu. Woran erinnerte ihn das bloß? An einen dieser Western, die er als Kind so gern gesehen hatte. Er war der alte Hilfssheriff, der ein letztes Mal in seine Heimatstadt zurückkam, um den Schurken zu verjagen. Der in den Saloon stolzierte. Die Bevölkerung wissen ließ, dass er wieder da war, dass er noch lebte.
    Veronica stellte ihm das Pint auf den Tresen. «Das geht aufs Haus», sagte sie. «Willkommen daheim, mein Lieber.»
    «Wann ist die Beerdigung?», fragte Barry, die großen, kieselsteinartigen Augen weit aufgerissen. «Die von deiner Jeanie, meine ich.»
    Er würde nie ein ordentliches Klatschweib abgeben, dachte Michael. Er war nicht taktvoll genug. Nicht gewitzt genug.
    «Die ist schon vorbei. Ich wollte kein großes Getue.» Ersah Veronica an. Wenn Barry so weitermachte, würde er noch in Versuchung geraten, ihm eine reinzuhauen. Es war besser, ihn nicht zu beachten. Die Gefängnisgeistliche hatte die Bestattung organisiert, eine junge Frau, die so klein war, dass er sie dauernd für ein Kind hielt. Sie hatten sich für eine Einäscherung entschieden. Er konnte den Gedanken, beerdigt zu werden, nicht ertragen, und hatte in letzter Minute beschlossen, dass es für Jeanie auch nicht das Richtige wäre. Sie musste enge, erdrückende Räume gehasst haben. Die Geistliche saß neben ihm. Der Gefängnisdirektor, der ebenfalls gekommen war, las aus der Bibel. Ein paar Frauen waren da, die er nicht kannte. Er nahm an, dass sie zum Gefängnis gehörten, Lehrerinnen vielleicht. Jedenfalls chic, in Kostümen. Am Ende des Gottesdienstes legte die Geistliche ihre Hand auf seine, und er zuckte überrascht zusammen. Es war nicht nur die körperliche Berührung – auch wenn die an sich schon ein Schock war, nach all der Zeit. Aber ihre Hand sah genau wie Jeanies aus, die Finger schlank und kräftig, obwohl sie so klein war. Sie trug sogar einen Silberring, der einem von Jeanies Ringen glich. In dem Moment war er erstmals den Tränen nahe gewesen.
    «Ich wünschte, du hättest mir Bescheid gesagt», meinte Veronica. «Ich wäre gern gekommen. Du weißt, dass ich große Stücke auf Jeanie gehalten habe.»
    «Aye, natürlich.» Wieder spürte Michael die Tränen in sich aufsteigen. «Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen.»
    «Man sagt, sie hat diesen Mord

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