Opferschuld
jetzt, wo nur noch die beiden in dem großen Haus herumgeisterten. Bis heute war ihr die Ehe ihrer Eltern ein Rätsel. Was hatte Robert an sich, dass ihm alle so ergeben waren? Nicht nur ihre Mutter – alle Frauen in der Gemeinde. Aber das war nicht der einzigeGrund für ihre Rückkehr gewesen. Die ganze Zeit, in der sie fort war, hatte sie Angst gehabt. Angst vor den fremden Orten und dem Trubel in den Städten und den Menschen, die sie nicht kannte. Vor dem Unerwarteten. Das war wohl der Fluch jenes Tages, an dem sie Abigails Leiche gefunden hatte: diese unbändige Angst, noch einmal auf etwas so Schreckliches zu stoßen. Sie wusste, allein würde sie damit nicht fertigwerden. Hier trieben ihre Eltern sie zwar in den Wahnsinn, aber sie würden da sein, um ihr zu helfen, so wie beim ersten Mal.
In dem Büro in Hull war auch ein wenig Übersetzungsarbeit angefallen, aber sie merkte, dass sie die Sprachen immer weniger beherrschte, weil sie sie nicht benutzte. Als man mit der Bitte an sie herantrat, in der Erwachsenenbildung zu unterrichten, sagte sie widerstrebend zu, nahm es als Möglichkeit, wenigstens ihr Russisch lebendig zu halten. Und in den ersten Kurs war James hereinspaziert, direkt von der Arbeit, noch in Uniform. Damals hatte sie ebenso lebhaft von ihm geträumt wie jetzt von Dan Greenwood. Oder etwa nicht?
Sie ging zum Fenster hinüber, musste gegen den Drang ankämpfen, sich ihrem liebsten Tagtraum hinzugeben … Es würde nicht leicht sein, das aufzugeben. Aber wie konnte sie weiterträumen, jetzt, wo sie wusste, dass Dan sich nicht zu ihr hingezogen gefühlt, sondern bloß unangenehm berührt ein Schulmädchen wiedererkannt hatte, das einst am Rande eines seiner Fälle eine Rolle gespielt hatte? Sie würde diese müßig verträumten Nachmittage vermissen, die Nächte, wenn sie aus dem Fenster schaute, um zu sehen, ob er da war.
In der Töpferei brannte noch Licht, und die Tür war nicht verschlossen. Dan arbeitete spät. Vermutlich hatte Vera Stanhope ihn den ganzen Tag über in Anspruch genommen,und er musste das jetzt wieder wettmachen. Vielleicht hatte er auch schon während der Nachtschichten bei der Polizei Gefallen daran gefunden, spät zu arbeiten. Das Licht ging aus. Dan kam aus der Töpferei und blieb einen Moment stehen, sah auf den Platz und die Straße entlang. Er machte die Türen zu und befestigte das Vorhängeschloss, blieb aber stehen, wo er war. Plötzlich und gegen jede Vernunft war Emma sich sicher, dass er auf sie wartete. Sie schaute zu ihm hinunter und wünschte sich inständig, dass er hochsah. Aber wie sollte er sie bemerken, wo doch kein Licht im Schlafzimmer brannte und das orange Leuchten der Straßenlaterne sich in der Scheibe spiegelte? Sie überlegte, ob sie das Fenster hochschieben sollte, wie in der Nacht, als er und James über Jeanies Selbstmord gesprochen hatten, und fragte sich, ob sie ihren Mann damit nicht wecken würde.
Ein Auto bog auf den Platz ein. Es war schwarz und lang. Leise glitt es neben Dan, und er stieg ein. Emma konnte nicht sehen, wer am Steuer saß. Womöglich Vera Stanhope mit noch mehr Fragen, aber die Art, wie Dan sich umsah, bevor er einstieg, hatte irgendwie gewirkt, als wollte er etwas verbergen. Vielleicht war es ja eine Frau, eine Geliebte, die er vor dem Rest des Dorfs geheim hielt. Der Motor des Wagens heulte auf, und das Auto brauste davon. Emma krabbelte ins Bett und legte sich mit dem Rücken zu James.
Sie erwachte vom Licht, voller Panik.
«Wo ist Matthew?»
James war angezogen. Das Licht kam von der Lampe auf dem Frisiertischchen. Er stand gebeugt vor dem Spiegel und band sich die Krawatte.
«Er schläft», sagte er. «Es ist noch früh.»
«Bist du sicher? Er hat noch nie durchgeschlafen.» Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie fühlte sich völlig klar im Kopf und hellwach.
«Ich habe schon nachgesehen.» Er zog eine Grimasse, um zu zeigen, dass auch er sich Sorgen gemacht hatte.
Wie aufs Stichwort drang ein Jammern aus dem Babyphon, das sie gekauft hatten, und dann ein leises Schreien.
«Bleib du hier», sagte James. «Ich hole ihn.»
Sie stopfte sich ein paar Kissen in den Rücken und fragte sich, warum sie bloß nicht glücklich sein konnte: mit einem großartigen Ehemann und einem Baby, das gestillt werden wollte.
Sie behielt Matthew bei sich und las, bis das Tageslicht durchs Fenster drang und der Verkehr draußen losging. James war schon lange weg. Sie wickelte Matthew und legte ihn wieder in sein
Weitere Kostenlose Bücher