Opferschuld
verstehen.» Doch seine Erinnerungen an Jeanie in ihrem alten Haus an der Küste waren nicht schön – Streit, verdrossenes Schweigen, verschlossene Türen, durch die Musik drang wie leises Schluchzen. Er beneidete Mantel um dessen Erinnerungen. «Wohnt er allein da, oder hat er eine Frau?»
«Na klar ist da eine Frau.» Barry gluckste anzüglich. Veronica warf ihm einen warnenden Blick zu, den er ignorierte. «Du glaubst doch nicht, dass Keith es lange ohne aushält. Die jetzt heißt Deborah. Debs. Ist Schauspielerin. Sagt er jedenfalls. Blond. Hübsche Titten. Jung genug, um seine Tochter zu sein.»
Diesmal konnte Michael sich nicht beherrschen. «Er hat schon immer auf junge Frauen gestanden.»
Barry wog das mit ernster Miene ab. «Nicht unbedingt», sagte er. «Er steht auf die Großen, Mageren. Und er steht auf die Gutaussehenden. Aber er hat in all den Jahren auch ein paar Ältere gehabt.»
«Du klingst, als ginge es um Tiere auf dem Viehmarkt.» Veronica war ungewöhnlich gereizt. Dabei hatte sie es sonst nicht mit dem Feminismus. Das Gespräch war ihr aus einem anderen Grund unbehaglich geworden, dachte Michael. Vermutlich fiel sie auf seine Bekehrung zu einem Mitglied des Keith-Mantel-Fanclubs nicht so leicht herein wie Barry.
«Wie lange treibt er’s denn schon mit dieser Debs?», fragte Michael.
Barry sah zweifelnd zu seiner Frau. «Ein halbes Jahr? Irgendwie so was. Jedenfalls hat sie den ganzen Sommer im Dorf rumgehangen. Sie hat sich wohl gelangweilt, wenn Keith arbeiten war. Hat ziemlich viel Zeit hier bei uns verbracht.»
«Ist er immer noch in derselben Branche?»
«Ich wusste noch nie, was das für eine Branche sein soll. Nichts, worauf man ihn festnageln könnte. Immobilien. Freizeitaktivitäten. Mehr sagt er einem ja nicht. Kann alles Mögliche heißen. Uns gehört der
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. Wenn man so drüber nachdenkt, machen wir also auch in Immobilien und Freizeitaktivitäten.» Das hatte er offenbar schon öfter einmal angebracht. Er fand es pfiffig und erwartete, dass man das auch würdigte.
«Stimmt.» Michael lächelte kurz. «So ist es.»
«Soll ich dir noch ein Pint einschenken?», fragte Veronica. Sie hatte ihm den Rücken zugekehrt, räumte Gläser ein, und sprach über die Schulter. Der Riemen hinten am BH war sehr dünn. Nur ein Haken, schätzte er. Früher hätte er so was in Sekunden offen gehabt.
Das dritte Pint war verlockend, aber er schüttelte den Kopf. Er hatte noch zu tun. Wieder kam ihm der Gedanke, wie sehr sich die Dinge doch verändert hatten. Er ließ sein Bier stehen, und das erste Mal seit Pegs Tod hatte er etwas zu tun.
«Ich gehe besser heim», sagte er. «Ich will’s ja nicht gleich übertreiben.» Er grinste, um zu zeigen, dass er einen Witz machte, dass er alles andere als gebrechlich war. Er zog den Geldbeutel aus der Jackentasche. «Na, was kosten diese Karten für das Rettungsboot, mit denen ich mich ruiniere?»
Barry rutschte von seinem Hocker und schlurfte ins Hinterzimmer, um die Karten zu holen. Veronica lehnte sich über den Tresen, sodass er ihr Haarshampoo riechen konnte. Sie flüsterte: «Du weißt hoffentlich, was du da tust, mein Lieber. Du wirst doch keine Szene machen?»
Bevor er überlegen konnte, streckte er die Hand aus und tätschelte ihren Handrücken, genau wie die kleine Geistliche bei der Trauerfeier.
«Mach dir um mich mal keine Sorgen. Ich weiß genau, was ich tue.»
Kapitel siebzehn
Am nächsten Morgen wachte Michael wieder sehr früh auf. Es war stockdunkel, und draußen auf der Straße herrschte noch kein Verkehr. Heute, so wurde ihm klar, musste er sich nicht zwingen, liegen zu bleiben. Er konnte aufstehen. Wieder sagte er sich das tröstliche Mantra vor, mit dem er im Pub angefangen hatte. Er hatte noch zu tun. Was genauer noch zu tun hatte, das wusste er zwar nicht, aber das war egal.
Die Sachen, die er am Vorabend ausgezogen hatte, lagen zusammengelegt auf einem Stuhl am Fußende des Betts. Peg war keine übereifrige Hausfrau gewesen, aber sie wollte, dass er sich sauber und ordentlich kleidete. In ihren letzten Monaten, als sie nicht mehr aufstehen konnte, hatte sie sich Sorgen deswegen gemacht. Sie zog ihn dicht zu sich herab, damit er ihrem heiseren Geflüster zuhörte. Er dachte, es wäre etwas Wichtiges, etwas Bedeutsames, eine Liebeserklärung, und vielleicht war es das auf gewisse Weise auch.
Wirst du zurechtkommen? Mit dem Waschen und Bügeln?
Er hatte es sich beigebracht, damit sie sich weniger Sorgen machen
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