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Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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Abigail kicherte, wie Vater und Tochter zusammen auf dem riesigen, pinkfarbenen Sofa saßen, auf dem jetzt eine alte Dame ihr Glas süßen Sherry umklammerte, und sich über Chris lustig machten, weil er so ein hoffnungsloser Schwärmer war.
    Den ganzen Abend über ertappte sie sich dabei, wie sie nach Dan Greenwood Ausschau hielt. Das hatte sie immer gemacht auf Veranstaltungen, auf denen das Dorf zusammenkam. Sogar wenn sie mit James redete oder Horrorgeschichten mit einer jungen Mutter austauschte, die sie aus dem Geburtsvorbereitungskurs kannte, horchte jeder Nerv in ihr, ob er da war. Heimlich ließ sie ihre Blicke schweifen und spitzte die Ohren. Hoffte, dass er auftauchen würde. Dann würden der Klang seiner Stimme, der Anblick seiner massigen Gestalt in der Ferne sie belohnen. Und sie würde versuchen, seinen Blick auf sich zu ziehen.
    Und auch jetzt hielt sie nach ihm Ausschau. Es war ihr genauso zur Gewohnheit geworden, wie sie in windigen Nächten, wenn James bei der Arbeit war, aus dem Schlafzimmerfenster sah. Als sie hörte, wie Dan ein paar Worte mit Mantel wechselte, zwang sie sich dazu, sich nicht umzudrehen, aber sie fühlte die alte Erregung wieder und versuchte sofort, sie zu ersticken. Ich bin kein Teenager mehr, sagte sie sich. Ich bin keine fünfzehn mehr. Dass ich ihm gefallen habe, hat mir geschmeichelt, aber selbst das war ein Irrtum. Doch sie konnte nicht aufhören. Die Erregung machte sie süchtig.
    Sie stand an der Bar und versuchte, das Gespräch mitzuhören. Mantel musste Dan etwas über den Fall gefragt haben.
Gibt es was Neues? Können Sie mir sagen, was vor sich geht?
Er musste leise und diskret gesprochen haben. Jedenfalls hatte er nicht versucht, Aufsehen zu erregen. Emma hatte ihn nicht gehört, aber Dans Antwort verstand sie.
    «Sie wissen doch, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen kann. Ich habe mit dem Fall nichts mehr zu tun. Ich bin nicht mehr bei der Polizei. Ich weiß genauso viel wie Sie.»
    Es waren nichtssagende, fast schon beschwichtigende Worte, doch sie war daran gewöhnt, in allem, was er sagte,nach einer Bedeutung zu suchen, und plötzlich meinte sie herauszuhören, dass er nichts von Mantel hielt. Sie hatte geglaubt, dass jeder hier im Dorf Abigails Vater mochte und Mitgefühl für ihn empfand. Doch schon Vera hatte sich ablehnend verhalten. Und Dans Antwort war überraschend und beunruhigend.
    Sie ging nach draußen, so nah an Dan Greenwood vorbei, dass sie das Wachs von seiner Barbourjacke riechen konnte. Der Himmel hatte sich vollständig aufgeklart. Eine schmale Mondsichel und die spitzen Nadeln der Sterne hingen am Firmament. Draußen auf dem Meer musste es noch neblig sein, denn inmitten des Stimmengewirrs konnte sie das Nebelhorn auf der Landspitze hören. Ein tiefes Grollen, wie ein Donnern. Der Abend hatte gesittet angefangen, aber jetzt stapelten sich die leeren Bierdosen in der Ecke neben den Grills, und die Köche der Rettungsbootmannschaft lachten und grölten.
    Plötzlich ließ der Lärm für einen Moment nach. Die Musik hatte aus irgendeinem Grund aufgehört, und der Koch, der am lautesten krakeelt hatte, versuchte gerade, ein Würstchen in ein Brötchen zu stopfen, wobei er seine dicke Zunge durch das Gitter seiner Zähne schob. Mitten in die unerwartete Stille hinein sagte jemand: «Verdammt nochmal, da ist ja der alte Mike Long. Den habe ich schon Jahre nicht mehr gesehen.» Dann hob der Lärm wieder an, aber da starrten schon alle auf den großen, dünnen Mann und die Frau, die neben ihm ging.
    Emma erkannte den Namen wieder und dann, im Feuerschein der Flammen, die der Frost blau angehaucht zu haben schien, erkannte sie auch den Mann. Sie fragte sich, ob Robert ihn wohl bemerkt hatte, ob es wieder eine Szene geben würde. Doch Michael Long war anscheinend nicht mehr wütend. Zögerlich bewegte er sich durch die Menge,grüßte alte Freunde. Falls er Robert erkannt hatte, so zeigte er es nicht.
    Die Frau neben ihm war Vera Stanhope. Sie sah, dass Emma zu ihr hinschaute, und kam auf sie zu, wobei sie zur Begrüßung eine Dose Lager durch die Luft schwenkte. Sie hatte das sackartige Kleid gegen eine ausgebeulte Hose und einen riesigen dunkelblauen Rollkragenpullover getauscht. An den Füßen trug sie immer noch die Sandalen.
    «Was machen Sie denn hier?», fragte Emma. Es mochte unlogisch sein, aber sie gab Vera die Schuld dafür, dass sie und James am Abend zuvor in der Küche unterbrochen worden waren. Das Bild der Kommissarin, die auf den Stufen

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