Opferschuld
kleine Strudel aus Sand und Getreidehalmen vor sich her. Der Wind war auch das Erste, was Mantel ansprach, als er die Tür öffnete. «Das wird noch einen Sturm geben», sagte er und schaute zu den dahinjagenden grauen Wolken hoch, ganz als hätte er sein Leben lang auf dem Land gewohnt und würde sich mit Booten und Gezeiten und dem Wetter auskennen.
Vera stellte sich vor.
«Sie leiten die neuen Ermittlungen zum Tod meiner Tochter?»
«Ganz genau. Darf ich vorstellen, mein Sergeant.»
«Ich hatte gedacht, Sie würden mich eher aufsuchen. Dass der Fall wiederaufgenommen wird, habe ich erst aus der Presse erfahren.»
Vera brummelte etwas vor sich hin von wegen, sie hätten erst mal vorläufige Ermittlungen angestellt, aber sie wusste, dass er im Recht war, und er hatte es auch nicht besonders vorwurfsvoll gesagt. Was immer seine Vorgeschichte sein mochte, was immer Michael Long gesagt hatte: Als sie Mantel jetzt sah, tat er ihr leid.
«Sie haben Glück, dass Sie mich hier antreffen. Ich habe beschlossen, heute zu Hause zu arbeiten, und alle Meetings abgesagt. Das hätte ich nicht verkraftet. Diese Sache mit dem Jungen vorgestern Abend, das hat alles wieder hochgebracht.»
Sie standen immer noch vor dem Bogenportal aus Holz und konnten den Tatort sehen. Ein Stück blau-weißes Absperrband hatte sich gelöst und flatterte im Wind wie der Schwanz eines jener großen Lenkdrachen, die man mit zwei Leinen dirigiert. Eine Reihe Polizisten in Spurenschutzanzügen und dunklen Anoraks ging langsam, die Blicke auf den Boden geheftet, über ein angrenzendes Feld.
«Zwei junge Menschen tot», sagte Mantel. «Was für eine schreckliche Verschwendung.»
«Drei», sagte Ashworth. Mantel erwiderte nichts darauf, aber Ashworth hatte leise gesprochen, und vielleicht hatte er es nicht gehört.
Sie folgten ihm in das Zimmer, in dem zwei Abende zuvor die alten Damen gesessen hatten. Von der Veranstaltung war nichts mehr zu sehen. Die überzähligen Stühle waren weggeräumt, der Teppich gesaugt worden. Im Wintergarten dahinter stand ein Getränkekasten an der Außentür. Darin standen leere Weinflaschen, einige steckten, denFlaschenhals nach unten gedreht, noch dazwischen. Durch die Scheiben sahen sie die Stelle des Lagerfeuers und auf dem Rasen verstreute Feuerwerksreste.
Mantel bedeutete ihnen mit einer Kopfbewegung, sich zu setzen. «Glauben Sie, dass die beiden von derselben Person umgebracht wurden?», wollte er wissen. Und als ihm nicht gleich geantwortet wurde, fügte er hinzu: «Abigail und der Junge von den Winters, meine ich.»
«Weder in die eine noch in die andere Richtung gibt es schon Beweise.»
«Ich war von Jeanies Schuld überzeugt. Das allein hat mich noch aufrechterhalten. Die Wut. Das Gerichtsverfahren. Zu sehen, wie sie verurteilt wurde. Ich ging jeden Tag zum Gericht. Nachdem ich selbst ausgesagt hatte, setzte ich mich unter die Zuschauer und wartete, die ganzen vier Tage, die sie für die Urteilsfindung brauchten. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich sie damals eigenhändig aufgeknüpft.» Er brach abrupt ab. «Sie wissen doch mit Sicherheit, dass sie unschuldig war, oder? Es sind nicht nur die Zeitungen, die eine Story wittern, oder ihre Anwälte, die das System austricksen wollen?»
«Wir sind vollkommen sicher.»
Er saß ganz ruhig da. «Ich habe es nicht geglaubt, bis vorgestern Abend», sagte er. «Ich dachte, die Weltverbesserer und Bürgerrechtler wollen nur ihren Namen reinwaschen. Aber dann die zweite Leiche … Selbst ich denke nicht, dass das ein Zufall sein kann.» Er sah unvermittelt auf. «Was meinen Sie? Ist das ein Verrückter, der frei herumläuft?»
«Es ist noch zu früh, um irgendwelche Schlussfolgerungen zu ziehen. Bis es gegenteilige Beweise gibt, werden die Morde als zwei voneinander unabhängige Fälle betrachtet.»
Er sah aus, als wollte er etwas dagegen sagen, doch dann entschied er sich anders. «Und was wollen Sie von mir?»
«Erzählen Sie uns von den Monaten vor Abigails Tod.»
«Was soll das nach all der Zeit noch nützen? Sie haben doch bestimmt Zugang zu den Aussagen.»
«Es ist etwas anderes, es von Ihnen zu hören.»
Er machte die Augen zu, kniff sie ganz fest zusammen, wie ein Kind, das versucht, die Tränen zurückzuhalten, doch als er sie wieder öffnete und anfing zu erzählen, klang seine Stimme ruhig.
«Ihre Mutter starb, als Abigail sechs war. Brustkrebs. Sie war erst dreiunddreißig. Noch immer wunderschön. Wenn Sie Ihren Job gründlich gemacht
Weitere Kostenlose Bücher