Opferspiel: Thriller (German Edition)
schämen. Blinder Glaube, wie blöde Schafe, und kein Interesse an Fakten und Geschichte.«
»Myrrhe und Galle«, drängte Jo. »Ich verstehe nicht ganz …«
Der Pathologe schnaubte entnervt. »Eine ziemlich gebräuchliche Mixtur zu Zeiten des Römischen Reiches, besonders bei Kreuzigungen. Erinnern Sie sich nicht an John Wayne als römischer Zenturio unter dem Kreuz: ›Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen‹?«
Jo ballte die Fäuste. Sie erinnerte sich tatsächlich, und sie erkannte schlagartig, warum das wichtig war.
»Der Schwamm, der eurem König der Könige gereicht wurde«, fuhr Hawthorne fort, »war, so vermutet man, mit Myrrhe und Galle getränkt, einem alten Schmerzmittel. Das hat der Mörder auch seinem Opfer gegeben. Ich schätze, er wollte verhindern, dass sie das Bewusstsein verlor. Indem er den Schmerz betäubte, sorgte er dafür, dass sie möglichst viel von der Tortur mitbekam, fürchte ich.«
21
Kurz vor Mittag war Jo zurück auf dem Revier und saß aufrecht und mit zusammengepressten Knien auf einem Stuhl, in der Hand die wenigen Notizen, die sie sich fünf Minuten zuvor draußen auf dem Parkplatz gemacht hatte. Sie war zufrieden mit ihrer schlichten Begründung, weshalb sie das Geld neben Rita Nultys Leiche genommen hatte, und fand sie besser, als wenn sie vergangene Nacht stundenlang über Formulierungen gegrübelt hätte, denn sie entsprach der Wahrheit: damit niemand sonst es nahm. Doch sobald sie den Rahmen für die Anhörung sah, bekam sie feuchte Hände. Erstens hatte Dan einen gesichtslosen Raum im hinteren Teil der Kaserne gewählt, in dem bloß alte Aktenschränke abgestellt wurden. Ich verdiene also noch nicht einmal den Konferenzraum . Zweitens klebte draußen an der Tür ein A 4 -Blatt, auf dem stand: »Anhörung, bitte nicht stören«. Schnell mal nebenbei mit der Hand geschrieben, nicht wert, getippt und ausgedruckt zu werden. Und drittens, aber nicht zuletzt, hatte er dafür gesorgt, dass ihm niemand an den Karren fahren konnte, indem er Zeugen angeschleppt hatte – den hauseigenen Rechtsexperten, einen Polizisten mit Abendschulabschluss namens Brown, bekannt als »Braune Zunge«, weil er Dan ständig in den Arsch kroch, und Jeanie, die vorgeblich Protokoll führen sollte und sorgfältig ihren Blick mied. Jo fragte sich, was sie wohl von dem neuen Wohnarrangement hielt, denn Dan wollte am Wochenende wieder zu Hause einziehen.
Jo blätterte durch ihre Akte und zwang sich, Dan nicht zu taxieren. Er saß in voller Uniform in der Mitte eines breiten Tisches, den er allen Ernstes auf ein improvisiertes Podest hatte stellen lassen, damit er sie überragte – als ob er das nötig hätte.
»Dies ist eine formelle Anhörung«, begann er übertrieben langsam und wartete, bis Jeanies Stift aufhörte, übers Papier zu fliegen, »bei der Detective … Inspector … Jo Birmingham Gelegenheit gegeben werden soll, Einspruch gegen meine Entscheidung zu erheben, sie als Leiterin der Ermittlungen im Mordfall Rita Nulty ersetzen zu lassen.«
Jos Herz schlug schneller. Er trägt die Förmlichkeiten aber dick auf , fand sie.
»Die ursprüngliche Situation hat sich inzwischen dahingehend verändert, dass der Zeuge, der aussagen wollte, Detective Inspector Birmingham habe eine bestimmte Geldsumme vom Tatort entwendet …« Er schenkte sich ein Glas Wasser aus einer Karaffe ein, bot Jo stumm auch eines an und schnappte sich auf ihr steifes Nicken hin Braune Zunges unbenutztes Glas, das er füllte und ihr über den Tisch hinweg reichte. »Bin ich zu schnell, Jeanie?«
Jeanie legte den Stift ab und schenkte sich ebenfalls Wasser ein.
»Du kannst Datum und Ort der vorgeworfenen Handlung später einfügen, wenn du das abtippst. Jedenfalls hat der Zeuge seine Aussage zurückgezogen mit der Begründung, es handele sich um ein Missverständnis.«
Jo schluckte schwer und stellte ihr Glas ab. Foxy, du bist ein Schatz . Jetzt hatte sie wenigstens eine reelle Chance.
»Nun gibt es jedoch eine gewisse Besorgnis hinsichtlich Mrs. Nultys Aufenthaltsort«, fuhr Dan fort.
Jo beugte sich erstaunt vor.
»Sie gilt zwar nicht offiziell als vermisst, aber wir haben sie heute nicht erreichen können, und ihre Nachbarn sagen, sie sei gestern Abend nicht nach Hause gekommen, und es sei höchst ungewöhnlich, dass sie verreise, ohne ihnen vorher Bescheid zu geben. Detective Sergeant John Foxe verschaffte sich gestern gewaltsam Zutritt zu ihrer Wohnung und konnte nichts Ungewöhnliches feststellen. Es gilt
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