Opferspiel: Thriller (German Edition)
unternehmen solche alten Hafenschuppen wie den, in dem Crawley der Garaus gemacht worden war, nur so an sich gerissen, obwohl man die vor zehn Jahren nicht mal hätte verschenken können – bis sie die Dinger schließlich wieder abstießen. Die ganze Gegend hatte etwas Verlassenes, und Banner mit der Aufschrift »Büros zu vermieten« zogen sich über ganze Hochhausseiten. Was die Prognosen über eine wirtschaftliche Erholung anging, so war die schwindende Zahl der Kräne auf den Kais für Sexton Beweis genug, dass die Politiker logen.
Er hielt den Kopf gesenkt. Pechvogel, der er war, würde ihn womöglich noch jemand vom Revier dabei sehen, wie er Jos Auftrag nicht ausführte.
Nervös schielte er auf seine Armbanduhr. Ryan verspätete sich. Er kramte sein Handy hervor. Wenn er nicht bald auftauchte, würde er es nicht schaffen, rechtzeitig vor dem nächsten Briefing mit Crawleys Frau zu sprechen.
Ryan und er waren alte Freunde. Sie waren auf dieselbe Schule gegangen und hatten sich auch ein paar Jahre danach noch getroffen, aber irgendwann den Kontakt zueinander verloren. Bis zu Mauras Beerdigung vor anderthalb Jahren, zu der Ryan gekommen war.
Dann, als Katie entführt wurde, hatte Ryan ihn darum gebeten, heimlich zu ermitteln, damit die Sache nicht in den Zeitungen erschien. Sexton kannte zwar Angie, hatte aber die kleine Tochter noch nie gesehen. Sobald sie ihm ein Foto von ihr zeigten, wusste er, dass er nicht Nein sagen konnte, schon gar nicht, seit er erfahren hatte, dass Maura ein Mädchen erwartet hatte. Ryan glaubte, dass Crawley für Katies Entführung verantwortlich gewesen war, und hatte ihn gebeten, ihm den Ort zu zeigen, wo der Gangster gestorben war.
Sexton schnalzte ungehalten mit der Zunge, weil er sich beim Eingeben von Ryans Nummer vertippte. Er hatte heute zwei linke Hände. Wieder hielt er zu beiden Seiten der Straße hin Ausschau und packte das Telefon fester, als er die Nummer löschte und von vorn anfing. Die vorbeidonnernden Lastwagen machten es ihm auch nicht leichter, ebenso wenig seine verstopften Nebenhöhlen und sein dringendes Bedürfnis nach einem Schluck Alkohol gegen den Kater. Er hatte es gestern Abend wieder mit dem Vino übertrieben, und sein Magen war nach einer strikten Diät aus Fertiggerichten ebenfalls hinüber.
»Sie leiden an Übersäuerung«, hatte ihm so ein Quacksalber neulich erklärt, um ihm dann einen Vortrag darüber zu halten, dass man eine Biopsie machen müsse und er besser auf sich achten solle, aber vor allem und am dringendsten psychologische Betreuung zur Verarbeitung seiner Trauer bräuchte.
»Geben Sie mir einfach die Pillen«, hatte er darauf erwidert. Am liebsten hätte er dem Quacksalber an den Kopf geworfen, dass er nicht an fünf Portionen Obst und Gemüse täglich denken konnte, wenn in seinem Kopf nur Platz für Reue und Bedauern war. Die Erinnerung, die ihn gestern Nacht überfallen hatte, war wieder ein besonderer Hammer gewesen. Sie drehte sich darum, wie er Maura kurz vor ihrem letzten gemeinsamen Weihnachten runtergeputzt hatte. Er hatte schon seit Monaten rumgejammert, dass er allein die Brötchen verdienen müsse und es ja ganz schön sei, wenn sie sich als Freigeist betrachte, aber ob sie das nicht auch nach Feierabend sein könne? Kurz darauf erschien sie mit aufgemalten Sommersprossen und in einem albernen Kostüm und verkündete, sie hätte den perfekten Job gefunden, als Elfe im Gefolge des Weihnachtsmanns im nahen Einkaufszentrum. Er war ausgerastet und hatte etwas in dem Sinne von »Werd endlich erwachsen« gebrüllt. Später war er ins Einkaufszentrum gegangen, um ihr unbemerkt aus einiger Entfernung zuzusehen, und hatte beobachtet, wie sie die Menschen zum Lächeln brachte. Sie hatte die Begabung, andere glücklich zu machen. Warum war sie dann selbst so unglücklich gewesen?
Sexton spürte, wie seine Luftröhre brannte, und rieb sich die schmerzende Brust. Mit hochgezogenen Schultern blickte er wieder die Straße entlang – immer noch keine Spur von Ryan. Er ging zu dem Speicher hinüber und zwinkerte dem uniformierten Beamten zu, der die Absperrung bewachte. Zusammen schoben sie das verrostete Riegelschloss zur Seite und rollten scheppernd die schwere Tür auf.
Tageslicht fiel ins Innere, und Sexton machte ein angewidertes Gesicht. Ein langer Schlauch von einer Bruchbude. Die Ziegelwände waren geschwärzt und schleimig von dem Rostwasser, das von oben heruntertropfte, und der Boden war mit Matratzen in verschiedenen
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