Opferspiel: Thriller (German Edition)
leben muss?«, fragte sie flehend, während ihr die Tränen über die Wangen liefen.
Der Sprechchor wurde grimmiger.
Hier sind alle Altersgruppen vertreten, dachte Jo, und sah sich die Menge genauer an. Die Männer in den Bomberjacken, die an strategischen Punkten dieses Scheingerichts verteilt standen, beobachteten ebenfalls die Leute, nicht Skinny. Einer der Schlägertypen hatte LOVE und HATE auf seine über dem Schritt gefalteten Fingerknöchel tätowiert und blickte zu ihr und Sexton hinüber. Sie wusste, dass sie längst als Bullen erkannt worden waren.
Die alte Dame zwängte sich jetzt über die ausgestreckten Beine hinweg seitwärts aus ihrer Reihe. Keiner von ihren Nachbarn stand auf, um ihr tröstend auf die Schulter zu klopfen, oder zog auch nur die Füße ein, damit sie leichter vorbeikam.
Sexton tippte sie an. Sie wusste, was er dachte. Falls die Leute merkten, wer sie waren, konnte die Mobmentalität ihnen gefährlich werden.
»Wenn er innerhalb von zwölf Stunden nicht weg ist, schmeißen wir dir sämtliche Möbel vom Balkon«, rief Skinny der Frau nach.
Jo nahm sie am Arm, als sie an ihr vorbeikam, und drehte sie zum Saal herum. Es wurde still. Sie führte die alte Dame zurück nach vorn und hielt ihre Polizeimarke in die Höhe. Sexton tippte derweil eine Nummer in sein auf die Hüfte gestütztes Handy ein, um Verstärkung zu rufen.
»Seid ihr jetzt stolz auf euch?«, rief Jo laut, während sich Buhrufe erhoben. »Seht sie euch an.« Der Lärm legte sich, aber nur ein wenig.
Skinny schoss wütende Blicke auf die Aufpasser in den Bomberjacken ab und machte Handbewegungen, die sie dazu aufforderten, Jo hinauszuwerfen. Sexton hatte das Telefon am Ohr.
»Wie alt sind Sie?«, fragte sie die Frau.
»Ihr Bullen habt hier nichts verloren«, schrie Skinny. »Wenn ihr das Drogenproblem endlich mal in den Griff kriegen würdet, müssten wir uns nicht selber wehren. Sogar die Gefängnisse sind mit Heroin verseucht.«
Applaus. Pfiffe. »Raus, raus, raus!«
Die Bomberjacken näherten sich Sexton, der sein Telefon wegsteckte und Jo zunickte, dass Hilfe unterwegs war.
»Ich gehe erst, wenn einer von Ihnen mir erklären kann, warum Sie sich von so einem etwas sagen lassen« – sie blickte kurz zu Skinny hin –, »einem Perversen, der Sex mit toten Frauen hat.«
Jetzt hörten ihr alle zu.
»Was redest du da für’n Scheiß, Bullentante?«, sagte Skinny mit verzerrtem Gesicht.
»Haben Sie den Mord an Anto Crawley gestern auf dem Revier Store Street gestanden oder nicht?«, fragte Jo und hielt sein Geständnis hoch, damit alle es sehen konnten.
Skinny zuckte die Achseln.
»Der Mann, nach dem wir suchen, vergeht sich nämlich gern an Toten. Sind Sie das?«
»Wovon redet die, Skinny?«, rief ein Mann aus der Menge.
»Versuchen Sie gar nicht erst, es zu leugnen. Wir nehmen heutzutage alles auf, was im Vernehmungsraum gesagt wird, oder haben Sie das vergessen?«, fuhr Jo fort.
Skinny winkte ab. »Das war doch nur Spaß. Ein blöder Scherz, ich hab nix mit dem Mord an Crawley zu tun.«
»Ich glaube Ihnen, andere aber vielleicht nicht«, sagte Jo. »Und wenn dieser Frau hier etwas zustößt, werden wir die Wohnung von jedem Einzelnen hier auf den Kopf stellen.«
Ohne Vorwarnung spuckte die alte Dame Jo auf die Schuhe.
Die Menge applaudierte.
Jo seufzte und ging bedächtigen Schrittes zum Ausgang.
»Sind Sie genauso korrupt wie der Rest in der Store Street?«, brüllte Skinny ihr nach.
30
Jos Auto, auf das jetzt an beiden Seiten das Wort »Bullenschwein« eingekratzt war, sprang nicht an. Nach dem fünften Versuch beförderte Sexton sie in sein eigenes. Sie protestierte heftig, bis sie die Versammlung schimpfend und höhnend aus der Halle auf sich zukommen sah. Flimmerskotome zuckten in ihrem peripheren Gesichtsfeld auf. Eine Migräne kündigte sich an, und es würde eine schlimme werden. Oh Gott, bitte nicht jetzt. Nicht jetzt, da ich weiß, dass der Mörder morgen wieder zuschlagen wird.
Unterwegs rief Sexton den Chief über die Freisprechanlage an, erklärte, was passiert war, und bat ihn, die Kollegen zurückzurufen und Jos Wagen abschleppen zu lassen. Sie hörte die Gereiztheit in Dans knappen Antworten, wusste aber nicht, ob er wegen der Umstände verärgert war oder weil Sexton am Steuer saß. Was Dan anging, wusste sie eigentlich überhaupt nichts mehr …
Sie kniff sich in den Nasenrücken und umklammerte den Türgriff, machte dann mühsam die Augen auf, um nachzusehen, woher der Geruch
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