Opfertod
Frauen sind während der Amputation die ganze Zeit bei vollem Bewusstsein und können alles spüren?«
Sie nickte. »Ich fürchte, ja.«
»Scheiße, ist das abartig! Da wird einem ja schon beim Zuhören schlecht.« Brandt kam ihr zügig hinterher. Lena wartete, bis sie sie eingeholt hatte, bevor sie in gemäßigter Lautstärke weitersprach, damit die auf dem Flur befindlichen Patienten nichts mitbekamen. »Fest steht, dass er seine Opfer nicht unmittelbar nach der Amputation tötet, sondern sie noch einige Zeit am Leben lässt.«
Brandt verzerrte das Gesicht. »Aber wozu?«
»Tja, wenn wir das wüssten, wären wir womöglich ein gewaltiges Stück weiter. Ich werde gleich für morgen früh eine Konferenz einberufen«, sagte Lena und blickte Brandt mit düsterer Miene an. »Bleibt nur zu hoffen, dass es für eine der Frauen auf den Fotos nicht längst schon zu spät ist.«
8
Am selben Vormittag in Berlin-Schöneberg
Wenn es jemanden gab, der ihn verstand, dann war das Gemmy. Und Gemmy stellte keine Fragen. Tat er nie. Bei ihm konnte er der sein, der er in seinem tiefsten Inneren war: Artifex. Der begnadete Künstler. Der Meister. Der Richter über Leben und Tod. Doch wie er den Jungen so vor sich auf der schäbigen Matratze im Hinterzimmer seines Trödelladens liegen sah, splitternackt, die Beine locker gespreizt, in der einen Hand den Controller der Playstation, in der anderen eine Flasche Bier, entwich ihm ein Seufzer des Bedauerns. Wie schön wäre es doch, Gemmy einmal mitzunehmen, ihn teilhaben zu lassen am echten Leben, das so viel mehr zu bieten hatte als seine stumpfsinnigen Ego-Shooter-Spiele. Mehr als einmal war er geneigt gewesen, Gemmy an seinen blutigen Phantasien nicht nur in der Theorie beiwohnen zu lassen. Aber Gemmy konnte seine Finger einfach nicht von den Drogen lassen. Dieses Teufelszeug machte ihn zeitweise unberechenbar, und Artifex durfte seine Mission um nichts in der Welt gefährden. Nicht vor der Vollendung seines Meisterwerks, das er sich seit Kindertagen in seinen Träumen ausgemalt hatte. Und Träume waren schließlich dazu da, verwirklicht zu werden. Die Schulter gegen den Türrahmen gelehnt, ließ Artifex seinen Blick langsam über Gemmys wohlgeformten Hintern gleiten, seinen schmalen, zarten Rücken bis zu seinen kurzgeschorenen Haaren am Hinterkopf. Gemmy war ein guter Junge und würde ihm noch viel Freude bereiten. Lediglich die Einstichnarben an seinen Unterarmen bereiteten ihm zunehmend Sorge. Gemmy war bereits im Alter von vierzehn Jahren von zu Hause abgehauen und verdiente sein tägliches Brot seither als Stricher in der Jebensstraße. Entgegen landläufigen Klischees kam Gemmy aus gutem Hause, wollte jedoch aus Gründen, die nur er selbst kannte, keinesfalls dorthin zurück. Der Junge war dafür bekannt, nicht zimperlich zu sein. Doch das war nicht der Grund, weshalb er ihn so oft in das Hinterzimmer seines Trödelladens bestellte. Oft wollte er gar keinen Sex. Gemmy schien der einzige Mensch zu sein, der ihn für seine düsteren Phantasien nicht verurteilte. Und da Gemmy weder Zeitung las noch sonst irgendwelche Nachrichten verfolgte, konnte er ziemlich sicher sein, dass der Junge niemals erfahren würde, dass er seine Mordgelüste tatsächlich auslebte.
Ach, Gemmy … Wieder einmal musste er sich auf die Zunge beißen und die Vorfreude auf seinen bevorstehenden Beutezug für sich behalten.
9
Schon morgen Nachmittag, gleich nach der Pressekonferenz, die anlässlich des Kinostarts eines US -Blockbusters im Ritz-Carlton stattfinden sollte, würde er erneut zuschlagen. Dabei war die Auserwählte keine Berühmtheit. Es war eine kleine Reporterin, die sein Interesse geweckt hatte, neulich im Straßencafé, in der Simon-Dach-Straße. Sie hatte an dem Tisch hinter ihm gesessen und so laut telefoniert, dass es ihm schier unmöglich gewesen war, das Gespräch nicht mit anzuhören. Nicht nur ihm, jedem im Umkreis von fünf, sechs Tischen. Die Reporterin schien noch nicht allzu lange dabei zu sein und hatte am Telefon mächtig damit angegeben, irgendeinen aufgeblasenen Action-helden bei der Pressekonferenz höchstpersönlich zu interviewen. Im Anschluss würde sie mit ihrem Wagen zurück in die Redaktion fahren, um »in die Tasten zu hauen« und ein Best-of aus einer Vielzahl von Fragen und Antworten online zu stellen, ehe ihr die Konkurrenz zuvorkäme. Artifex musste schmunzeln. Offensichtlich stolz auf sich, hatte sie die frohe Botschaft in allen Einzelheiten im Café
Weitere Kostenlose Bücher