Opfertod
Glück schien auf ihrer Seite gewesen zu sein, denn aus einem Kaffee war prompt eine Einladung zum Dinner geworden. Carmen wusste, dass sie keine Schönheit war, und umso schmeichelhafter war es für sie gewesen, dass der attraktive Unbekannte ausgerechnet sie um ein Date gebeten hatte.
Der Rest der Woche war unendlich langsam vergangen, und Carmen hatte die Tage bis zu diesem Abend gezählt. Aufgeregt saß sie hinter dem Steuer ihres Wagens und puderte sich die Nase. Als sie die Sonnenblende wieder hochklappte, stand ihr ein Lächeln ins Gesicht geschrieben. Noch ein Spritzer Parfum hier und da, dann stieg sie mit klopfendem Herzen aus dem Wagen. Momente später betrat sie das Restaurant.
»Buona sera, signorina«, begrüßte sie ein herbeieilender Kellner. »Sie hatten reserviert?«
Schüchtern nickte Carmen und ließ ihren Blick durch das Restaurant schweifen, das bis zum letzten Platz gefüllt war. Neben einer Vitrine mit verschiedenen Antipasti sah sie an die fünfzehn Tische, auf denen Kerzen brannten, die dem Raum eine gemütliche Atmosphäre verliehen. »Ja, das heißt nein, die Reservierung lautet nicht auf meinen Namen, sondern …« Sie schaute hilflos umher und hatte sich schon beinahe damit abgefunden, dass er es sich doch anders überlegt hatte, als sie ihn an einem etwas versteckt gelegenen Tisch im hinteren Teil des Restaurants entdeckte. Carmen riss den Arm hoch und winkte ihm freudig zu. Martin Jung hob dezent die Hand. Er lächelte ihr zu und senkte seinen Blick wieder auf die Speisekarte. Statt des sportlichen Jacketts, das er bei ihrer unglücklichen Begegnung im City Coffee getragen hatte, hatte er sich an diesem Abend für ein dunkles Hemd entschieden. Seine blonden Haare waren diesmal nicht gescheitelt, sondern streng zurückgekämmt. Er ist noch attraktiver, als ich ihn in Erinnerung hatte , dachte Carmen, als der Kellner sie an den Tisch führte. Der Abend verlief genau so, wie Carmen es sich erhofft hatte. Martin Jung hatte Humor, war intelligent und weitaus charismatischer als die Männer, mit denen sie bislang zu tun gehabt hatte. Er sparte nicht mit Komplimenten, insbesondere was ihre Nase anbelangte, auch wenn Carmen beim besten Willen nicht nachvollziehen konnte, was er ausgerechnet an dieser so besonders fand. Sie lachten viel zusammen und kamen sich einmal sogar so nahe dabei, dass sich ihre Gesichter beinahe berührten. Und während sie ihre Nachspeisen löffelten, setzte Martin Jung noch einen drauf, als er ihr erzählte, dass er einen Trödelladen besaß. Wo sie doch ein solches Faible für antike Möbel hatte! Wäre es nach der jungen Frau gegangen, hätte dieser Abend noch ewig so weitergehen können.
Hätte Carmen Martinez bemerkt, dass auf der Kreditkarte, die Martin Jung später dem Kellner reichte, ein anderer Name stand, wäre der Abend womöglich anders ausgegangen und sie am Leben geblieben …
39
Als die junge Frau auf die Toilette verschwand, sah Artifex ihr hinterher. Während er neulich noch überzeugt war, die kleine Reporterin sei ein einmaliger Glückstreffer gewesen, so musste er seine Meinung nun revidieren. Den ganzen Abend über hatte er Martinez’ Nase eingehend betrachtet und war zu dem Entschluss gekommen, dass Tilla noch begeisterter von ihr sein dürfte als von Svenja Stollbergs Lippen, die noch immer in der Gefriertruhe in seiner Werkstatt lag. Er hatte einfach noch keinen passenden Ort gefunden, um Stollbergs Überreste zu entsorgen. Darüber hinaus war Carmen Martinez neu in der Stadt und hatte den ganzen Abend weder einen festen Freund noch anderweitige Bekanntschaften erwähnt. Demnach würde sich so schnell auch niemand auf die Suche nach ihr machen. Jetzt musste er sie nur noch davon überzeugen, ihren Wagen stehenzulassen und sich von ihm fahren zu lassen, und alles liefe genau nach Plan. Irgendwie mochte er die rundliche junge Frau, obgleich das nichts daran ändern würde, dass er sie töten musste. Genau wie alle anderen war auch sie für ihn nicht mehr als ein Objekt, ein Teil seines Kunstwerks. Martinez’ Nase passte geradezu perfekt und war eine der wenigen Zutaten, die ihm noch für die Fertigstellung fehlten. Ein paar Tage noch, vielleicht eine Woche oder zwei, dann würde er es endlich vollenden. Tilla würde stolz auf ihn sein. Eine Weile dachte Artifex darüber nach, Martinez einen letzten Gefallen zu erweisen und den Trödelladen tatsächlich zu zeigen. Ihm war es gleich, wo er es zu Ende brachte. Allerdings würde er darauf
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